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PolitikEuropa

Die Kraft der Roma für ein Europa der Werte

24. Dezember 2023

"Wenn Europa seinen eigenen Werten gerecht werden will, kann es die Roma nicht weiterhin so behandeln wie bisher", sagt Zeljko Jovanovic im DW-Interview. Er ist Präsident der neuen Roma Foundation for Europe.

Zeljko Jovanovic, Präsident der neuen Roma Foundation for Europe, im DW Interview mit Adelheid Feilcke
Zeljko Jovanovic ist ehemaliger Leiter des Roma Initiative Office bei den Open Society Foundations und Präsident der neuen Roma Foundation for EuropeBild: Florian Schmitz/DW

DW: Was treibt Sie an, was motiviert Sie?

Zeljko Jovanovic: Meine größte Motivation ist der tiefe Glaube, dass unsere Gemeinschaft sich zu etwas Größerem entwickeln kann als das, was wir heute sind. Die Idee des kollektiven Kampfes, der kollektiven Bereitschaft zur eigenen Selbstorganisation ist die Vision, die ich habe. Und diese Vision mit all den Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, zu teilen, ist etwas, das meine Arbeit, mein Leben und mein Engagement in der europäischen Politik leitet. 

Wie wollen Sie erreichen, dass Ihre Vision Wirklichkeit wird?

Ich denke, der größte Gewinn und das größte Privileg, das ich in den letzten Jahren hatte, ist die Zusammenarbeit mit den Open Society Foundations. Ich hatte die Chance, zu lernen und die Ressourcen des Netzwerks zu nutzen, um meine Vision in die Praxis umzusetzen: die Vision der kollektiven Gestaltungskraft in den Gemeinschaften der Roma. Es ist einfach großartig, dass die Open Society Foundations die Roma seit 30 Jahren unterstützen. Und ich weiß, dass es nicht viele Konzepte wie dieses gibt. Vielleicht ist dies der einzige Ort auf der Welt, an dem diese Art von Vision voll und ganz unterstützt wird.

Vision der kollektiven Bereitschaft

Sie sprachen von Ihrer Vision der kollektiven Bereitschaft zur Selbstorganisation der Roma-Gemeinschaft. Worin bestehen die Besonderheiten dieser Bereitschaft?

Historisch gesehen haben wir Gewalt und Ablehnung erfahren, seitdem wir vor Jahrhunderten nach Europa gekommen sind. Wir waren mit Verfolgung, Sterilisation, Völkermord konfrontiert, und wir sind immer noch hier. In unserer Gemeinschaft geht es also darum, wie wir uns an andere Länder, andere Kulturen, andere Religionen, andere Situationen anpassen können. Wir haben in der Vergangenheit Länder kommen und gehen sehen, Imperien kamen und gingen - und wir sind immer noch hier, inzwischen sind wir eine Bevölkerung von 12 Millionen in Europa.

Zeljko Jovanovic im DW-Interview

00:43

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Würden alle Roma oder die meisten Roma in einem einzigen Land leben, einem eigenen Nationalstaat, wie viele andere in Europa, wären wir ein mittelgroßes EU-Land. Wir wären größer als Luxemburg, Malta, die Slowakei, Ungarn, aber wir hatten in der Vergangenheit nicht die Möglichkeit, uns so zu organisieren wie die anderen. Die Fähigkeit sich anzupassen, unternehmerisch zu sein, eine Lösung zu finden, die Fähigkeit, verschiedene Sprachen zu sprechen, auch die Fähigkeit, die schlimmsten Situationen zu überleben - es gibt etwas in dieser Kultur und Tradition und Geschichte, worauf wir unsere Strategie aufbauen wollen.

Sie erwähnen die Fähigkeit sich anzupassen. Andererseits hat die Roma-Gemeinschaft ihr einzigartiges kulturelles Erbe, ihre Identität bewahrt. Wie ist das gelungen?

Wenn man sich die Anpassungsmöglichkeiten unserer Gemeinschaft ansieht - wir mussten immer eine Entscheidung treffen. Was wir opfern müssen und was wir behalten wollen. Mein Name ist zum Beispiel Zeljko Jovanovic. Ich habe einen serbischen Namen. Einen serbischen Nachnamen. Meine Eltern sind in einem orthodoxen christlichen Umfeld aufgewachsen. Wir sind auch orthodoxe Christen. Wir sprechen auch Serbisch. Aber gleichzeitig haben wir einige Traditionen beibehalten, einige Formen des Zusammenlebens in unserer Gemeinschaft. So haben wir im Laufe der Zeit die Traditionen rund um wichtige Lebensereignisse weitergepflegt: Wenn unsere Kinder geboren werden, wenn unsere jungen Leute heiraten, die Art und Weise, wie wir unsere Toten beerdigen, wie wir feiern, wie wir trauern, all diese Lebensereignisse sind sehr spezifisch.

Kultur hat, wie Sie wissen, keine klaren Grenzen. Natürlich vermischen wir uns auch mit den Kulturen um uns herum. Aber auch heute noch kann man in jedem Land und in jeder Gemeinschaft feststellen, dass die Roma-Gemeinschaften einige spezifische Lebensweisen, Denkweisen und Weltanschauungen haben, die sich von denen um uns herum unterscheiden. Natürlich haben wir auch viele Gemeinsamkeiten. Aber diese Idee der Anpassungsfähigkeit ist wesentlich für uns. Gleichzeitig wollen wir auch neue Wege einschlagen, um in den Ländern, in denen wir leben, zu überleben und zu gedeihen.

Angst vor Verlust der Identität

Von außen betrachtet sieht es manchmal so aus, als ob die Roma-Gemeinschaft immer noch sehr hermetisch ist. Es scheint oft sehr schwierig, Zugang dazu zu bekommen. Gibt es einen Grund dafür oder ist das ein Missverständnis?

Es kommt auf den Kontext an. Manche Menschen meinen, die Roma-Gemeinschaft sei zu geschlossen. Andere wiederum sagen, die Community sei zu offen. Wir sind immer wieder ausgenutzt und diskriminiert worden - sogar die Nazis wollten mehr über unsere Wesensart wissen, um ihren Plan in die Tat umzusetzen. Wir wurden so oft misshandelt. Aus diesem Grund gibt es in der Gemeinschaft eine Art Schutzmechanismus.

Auf der anderen Seite sind wir sehr offen. Wenn man in die Roma-Gemeinschaften kommt, spürt man immer eine sehr herzliche Gastfreundschaft. Gleichzeitig befürchten einige Vertreter unserer Gemeinschaften, dass wir manchmal zu offen sind und dass wir unsere Kultur verlieren, unsere Sprache und ein gewisses Maß an Schutz, um weiterhin so sein zu können, wie wir sind. Das ist immer ein Kompromiss. Menschen entwickeln sich weiter, Kulturen entwickeln sich weiter, und es gibt immer diesen Kompromiss zwischen dem, was wir übernehmen und dem, was wir behalten sollten. Dieser Dialog findet auch innerhalb unserer Gemeinschaft statt. Es kann schon sein, dass Außenstehende in bestimmten Situationen den Eindruck haben, unsere Gemeinschaften seien geschlossen. Von innen heraus gibt es aber auch Stimmen, die sagen, dass wir manchmal zu offen sind.

Eine Chance für Europa

Wie sieht der Beitrag der Roma-Gemeinschaft zur europäischen Idee aus? Was kann Europa durch Ihre Initiativen, durch die Zusammenarbeit mit der Roma-Gemeinschaft erreichen?

Wir gründen gerade die größte Roma-Stiftung, die es in Europa und wahrscheinlich auch in der Welt gibt. Das bedeutet, dass wir die Möglichkeit haben werden, die vorher keine andere Generation von Roma-Aktivisten hatte. Die Chance besteht darin, die Stärke, das Talent und die Schönheit der Roma-Gemeinschaft zu präsentieren. Wir haben eine Agenda, die man in drei Hauptbereiche gliedern könnte. Der erste ist die wirtschaftliche Stärkung Europas. Sehen Sie, Europa ist ein alternder Kontinent, selbst Deutschland braucht jedes Jahr 400.000 neue Arbeitskräfte, um seine wirtschaftliche Dominanz in Europa und seine Wettbewerbsfähigkeit in der Weltwirtschaft zu erhalten. Andererseits: Die Roma sind die jüngste ethnische Bevölkerung in Europa. Es ist leicht zu verstehen, dass unsere Gemeinschaft eine Quelle für zukünftige Arbeitskräfte ist. Länder verlieren sehr viel Geld durch Rassismus. Dieses Geld könnte ein Kapital sein, das die Regierungen durch Steuern, öffentliche Einnahmen, Produktivität und so weiter mehren könnten, wenn sie in die Qualifikationen und die Beschäftigung der Roma investieren würden.

Zeljko Jovanovic im DW-Interview

01:28

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Welche Rolle spielt die politische Arbeit, welche die kulturelle Kraft Ihrer Gemeinschaft?

Da wäre zunächst der politische Aspekt. Bekannte Politiker, vor allem in Mittel- und Osteuropa, wissen bereits, dass die Roma-Wähler für sie sehr wichtig sind. Deshalb gibt es Druck auf die Roma-Wähler. Deshalb gibt es den Stimmenkauf. Die politischen Parteien wissen das nur zu gut. Wir wollen versuchen, unsere Wähler anders zu organisieren, damit wir die Politiker unterstützen, die sich für unsere Rechte, unseren Aufstieg und unseren Fortschritt einsetzen. Denn wir werden vor und nach den Wahlen missbraucht. Niemand kommt in unsere Gemeinden, um Wahlversprechen zu erfüllen. Die Investition in unsere Wähler wäre nicht nur eine Frage des Nutzens. Für Roma geht es darum, die Integrität unserer Wahlen, die Integrität unserer Demokratie zu wahren. Denn Stimmenkauf ist eine zutiefst antidemokratische Praxis. Das geschieht seit 20, 30 Jahren, seit dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa. Und wir sehen, wie Demokratien in vielen Ländern geschwächt werden, weil unsere Gemeinschaften missbraucht werden, weil es Armut gibt, Angst, Rassismus.

Was halten Sie vom Konzept ethnischer Parteien, wie es sie in vielen Ländern gibt?

Ich denke, dass eine politische Partei im Prinzip ein Mechanismus ist, durch den wir an die Macht kommen, um die Macht zum Wohle unserer Bevölkerung - in unserem Fall der Roma - zu nutzen. Ich bin nicht dogmatisch, was die Frage ethnische Partei versus bürgerliche Partei oder Mainstream-Partei angeht. Aber wir haben jahrzehntelang gesehen, dass die Mainstream-Parteien, die Nicht-Roma-Parteien, nicht bereit sind, Roma-Kandidaten auf die Plätze zu setzen, die einen Einzug in nationale Parlamente ermöglichen. Daher werden ethnische Parteien zur Notwendigkeit, wo es möglich ist. Natürlich müssen wir immer den Kontext betrachten, ob es möglich ist, einen Sitz und ein öffentliches Amt durch ethnische Parteien zu gewinnen. Wenn das nicht möglich ist, sollten wir mit den etablierten Parteien sprechen. Ich sehe keine einheitliche Lösung. Wir müssen die Vision an den jeweiligen Kontext anpassen. Aber wie ich schon sagte, solange die etablierten Parteien nicht bereit sind, Roma-Wähler, Roma-Mitglieder in ihrer Partei, Roma-Mitglieder in ihrer Führung und Roma auf ihren Wahllisten zu akzeptieren, werden ethnische Parteien der einzige Weg sein.

Die europäische Werte müssen für alle gelten

Gehen wir weiter zum dritten Element, zur Kultur. Was wäre der Nutzen der Stiftung in kultureller Hinsicht?

Die Direktorin des Europäischen Roma-Instituts für Kunst und Kultur (ERIAC), Timea Junghaus, hat oft gesagt, dass Kultur der einzige Bereich ist, in dem positiv über Roma gesprochen wird. Meistens, nicht immer. Ich denke, dass unsere Kultur in der ganzen Welt, in ganz Europa, in jedem Land, dass unser Beitrag zur Musik, zum Tanz, zur Poesie usw., eine breite Anerkennung erfahren hat. Ich glaube, dass Europa gerade jetzt in einer tiefen Identitätskrise steckt, die auf den eigenen verkündeten Werten beruht. Wenn dies ein Kontinent der Gleichheit und der Solidarität ist, dann ist die Situation der Roma das Gegenargument dazu, denn unsere Gemeinschaften haben nur Ablehnung erfahren, Ungleichheit und Mangel an Solidarität. Europa verteidigt beispielsweise die Ukraine mit dem Argument, es gehe um unsere Werte: Wir müssen die Ukraine wegen unserer gemeinsamen Werte unterstützen. Und das ist wahrscheinlich auch der richtige Grund. Aber diese Werte müssen auch angewandt werden, wenn es um die Roma geht. Und der Bereich der Kultur ist in dem Sinne relevant. In diesem Bereich versuchen wir also zu sagen, dass wir die Werte und die Identität Europas und seine "Soft Power" in der Welt an uns und durch uns messen können. Wenn Europa seinen eigenen Werten gerecht werden will, kann es die Roma auf dem gesamten Kontinent nicht weiterhin so behandeln. Auf diese Weise ist unser Beitrag zur Kultur nicht nur Unterhaltung, wie es die Leute normalerweise gewohnt sind, sondern auch kritisches Denken und die Projektion dessen, was Europa sein muss und was Europa sein soll.

Zeljko Jovanovic (Mitte), ehemaliger Leiter des Roma Initiative Office und Präsident der Roma Foundation for EuropeBild: Adelheid Feilcke/DW

Gehen wir in die Region des westlichen Balkans. Das Hauptziel dort ist es, mehr Versöhnung, ein besseres Verständnis füreinander, eine kulturelle Vielfalt zu erreichen. Gibt es möglicherweise aus der Roma-Gemeinschaft heraus Antworten für diese Herausforderungen?

Wenn man sich die Region des westlichen Balkans ansieht, in der es vor 30 Jahren interethnische Kriege gab, dann waren wir der "Kollateralschaden", aber kein Akteur in diesen Kriegen. Wir haben sie also nicht verursacht. Aber wenn man sich die Verhandlungen und die Möglichkeiten der Versöhnung ansieht, sitzen wir nicht mit am Tisch. Und ich glaube, dass dies für die Zukunft unserer Gemeinschaft auf dem Westbalkan sehr nachteilig ist. Auf jeden Fall.

Wir können zeigen, wie man mit Menschen zusammenleben kann, die nicht dieselbe Religion und nicht dieselben Werte teilen. Aber man kann trotzdem koexistieren, kooperieren, in Frieden leben. Und das ist etwas, das nicht nur der westliche Balkan, sondern ganz Europa nicht gelernt hat. Sehen Sie sich den Krieg in der Ukraine an. Sehen Sie sich den Aufstieg der extremen Rechten an, sogar in Deutschland. Der westliche Balkan ist immer noch ein sehr riskantes Gebiet, wenn es um die Erhaltung des Friedens geht. Aber die Roma-Gemeinschaft hier ist sicherlich kein Risikofaktor, sondern ein Stabilitätsfaktor.

Lösungen und Wünsche

Die Roma Foundation for Europe wurde gerade gegründet, Sie sind der Präsident der neuen Stiftung. Es ist ein ambitioniertes Projekt. Ihre Amtszeit geht über eine Zeitspanne von sieben Jahren. Was wollen Sie in diesen sieben Jahren erreicht haben?

Ich denke, dass wir in diesen sieben Jahren etwas vorzeigen werden. Lösungen, die nicht nur für den Wohlstand der Roma in wirtschaftlicher, politischer und kultureller Hinsicht von Bedeutung sind, sondern für ganz Europa. Europa, dieser alternde und wirtschaftlich angeschlagene Kontinent, der sich politisch in Schwierigkeiten befindet, braucht Lösungen.

Wir sehen, wie Populisten und rechtsextreme Politiker nicht nur immer mehr Sitze in den Parlamenten gewinnen, sondern auch an der Spitze von Regierungen stehen. Europa ist ein Kontinent, der um seine eigene Identität, um seine eigenen Werte ringt. Ich glaube, dass die Lösungen, die wir finden werden, auch nach 2030 weiter entwickelt werden müssen, damit sie nicht nur für die Roma, sondern auch für die europäische Wirtschaft, Politik und Kultur von Bedeutung sein können.

Zeljko Jovanovic, Präsident der neuen Roma Foundation for Europe, im DW Interview mit Adelheid FeilckeBild: Florian Schmitz/DW

Da wir jetzt kurz vor Weihnachten und Neujahr sind, frage ich Sie nach Ihren Wünschen. Ein Wunsch für Ihre Gemeinde: Was wollen Sie, dass Roma noch mehr tun sollten? Und was ist Ihr Wunsch an die Mehrheitsgesellschaft?

Für meine eigene Gemeinschaft: Ich hoffe, dass wir die Stärke in jedem von uns sehen können; dass wir die Vielfalt unter uns als eine Quelle der Stärke erkennen, nicht als Quelle der Spaltung. Und wenn wir es schaffen, ab diesem Weihnachtsfest noch mehr unsere Besten und Klügsten, unsere Ideen und Beiträge zusammenzubringen, dann sind all die Unterschiede, die wir in den letzten Jahren betont haben, eine Quelle der Stärke. Wir können Teil von etwas sein, das größer ist als das, was wir heute sind.

Und für die Mehrheitsgesellschaft heißt es aufzuwachen aus dem Schlafwandeln in den Autoritarismus, in den Faschismus, in die Verzweiflung, von denen sich unsere Gesellschaften nur sehr schwer erholen werden. In diesem Sinne denke ich, dass die Mehrheitsbevölkerung aufwachen muss, um die Menschen, die Politik, die Führung wiederzubeleben, um Europa zu einem besseren Ort zu machen. Aufbauend auf den Lehren, die wir aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen haben.