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Glaube

Die Kraft des Zusammenhalts - Pfingsten

18. Mai 2024

Was hilft in Notsituationen? Zusammenbleiben. Eine Gemeinschaft, die trägt. Davon erzählen zwei Überlebende der Nazi-Verfolgung – und die Pfingstgeschichte. Ein Beitrag der evangelischen Kirche.

Symbolbild I Hände - Kinder
Bild: Kasper Ravlo/Zoonar II/IMAGO

„Tante“ nennen Roma und Sinti heute noch die Seniorin mit dem weißen Haar. Auch wenn Petra Michalski nicht mit ihnen blutsverwandt ist. Im Lauf der Jahre hat sich ein enger Kontakt zwischen ihr und ihrem kürzlich verstorbenen Mann Franz zu Sinti- und Roma-Familien entwickelt. Beide wurden wie Familienmitglieder angesehen, deren Nähe guttut. Auch wenn Franz jüdischer Herkunft war und Petra evangelisch getauft wurde und eine indigene Mutter hatte. 

Petra und Franz haben es sich zur Lebensaufgabe gemacht, von ihrem Überleben der Nazizeit zu erzählen und sich einzusetzen, wenn Menschen ausgegrenzt und Menschenrechte verletzt werden. Zum Beispiel dann, wenn es um Antiziganismus geht. 

Einmal wurde Petra Michalski anlässlich einer Kundgebung von Sinti und Roma gebeten: „Sprich doch zu uns über Solidarität!“ Sie sagte zu, aber auf der Bühne wurde ihr klar, dass sie darüber keine plakative, allgemeine Rede halten konnte. Sie entschied sich stattdessen, über ihre Lebenserfahrungen zu sprechen und vor allem über die Notwendigkeit des Zusammenhaltes. So wie ihr Mann Franz und sie es schon seit einigen Jahren tun, wenn sie als Zeitzeugen eingeladen werden. Denn Franz hat als jüdischer Junge die Nazizeit nur mit knapper Not überlebt und Petra als indigenes Mischlingskind ebenso. Nur musste sie sich damals nicht wie Franz verstecken. Wurde sie in der Nazizeit auf ihr prachtvolles schwarzes Haar angesprochen, hat sie sich als Argentinierin ausgeben. Trotzdem hat sie die Bedrohung deutlich gespürt. 

Wie kam es, dass sie beide überlebt haben ebenso wie die engste Familie? Ihr Mann Franz hat immer wieder von den „stillen Helden“ erzählt, die selbstlos die verfolgte Familie unterstützt und versteckt haben. Petras Familie dagegen musste zwar nicht im Untergrund leben. Aber ihre Mutter schärfte der Sechsjährigen ein: „Du darfst dich nicht verplappern. Als Argentinier sind wir geschützt. Als Indigene und Mischlinge aber nicht.“  

Heute sagt Petra: „Wir haben überlebt, weil wir zusammengeblieben sind.“  

Die Kraft des Zusammenhaltes - das ist Petras persönliche Erfahrung von Solidarität. Ja, es ist notwendig, die Öffentlichkeit zu sensibilisieren für Antisemitismus und Antiziganismus. Solche Menschenfeindlichkeit darf nicht hingenommen werden. Schon deshalb nicht, weil historisch gesehen Phänomene dieser Art die Vorboten großer Krisen sind. Als Sündenböcke müssen dann Minderheiten herhalten. 

Aber ebenso wichtig wie die politische Ebene ist, was Betroffene persönlich der Bedrohung entgegensetzen. Denn wenn Menschen ausgegrenzt werden, kann die Seele Schaden nehmen. „Wir haben überlebt, weil wir zusammengeblieben sind.“ Das meint die gegenseitige Hilfe in praktischen Dingen genauso wie die seelische Unterstützung.  

Die urchristliche Gemeinde war ebenfalls eine Gefahrengemeinschaft, für die Zusammenhalt überlebenswichtig war. Die Bibel beschreibt es so: „Die Menge der Gläubigen aber war ein Herz und eine Seele; auch nicht einer sagte von seinen Gütern, dass sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemeinsam.“ (Apostelgeschichte 4, 32) In der historischen Realität mag es nicht ganz so harmonisch zugegangen sein. Aber das ist nicht entscheidend. Dieses Ideal beschreibt den Zusammenhalt untereinander, der zum Überleben notwendig war.  

Und nicht nur zum Überleben, sondern auch zum Wachstum. Die urchristliche Gemeinde gewann solche Ausstrahlungskraft, dass sie andere begeistern konnte mit ihrer Botschaft. Sprache, Herkunft und sozialer Stand waren Nebensache: Jeder und jede fand einen Platz in der Gemeinschaft, konnte bleiben und war gut aufgehoben.  

Aus den Briefen des Apostels Paulus wissen wir, mit welchen Schwierigkeiten die bunt zusammengewürfelten Gemeinden zu kämpfen hatten. Gefahren lauerten von außen, aber auch von innen. Was aber zählte, war die kräftige Überzeugung, dass jede und jeder Gottes Kind ist und mit den je eigenen Gaben mitgestalten darf.  

Die Bibel beschreibt das als Wirkung von Gottes Heiligem Geist. Pfingsten erinnert und feiert diese Kraft Gottes. Denn sie hilft zum Leben und hat nicht nur die Kirche, sondern auch unsere Gesellschaft geprägt. Auch das Grundgesetz und die Menschenrechte atmen diesen Geist der Universalgemeinschaft, in der jeder und jede wertvoll ist.  

Petra Michalski schöpft ihre Kraft aus der Erinnerung an das Zusammenbleiben. Nach dem Tod ihres Mannes gibt sie diese Kraft weiter: An Sinti und Roma, an deutsche Schüler und Schülerinnen, an ihre Familie und alle, die sie danach fragen. Ja, zu Recht wird sie von Sinti und Roma „Tante“ genannt, wie ein guter Geist in der Familie. Denn Menschen wie sie zeigen, worauf es in Notsituationen ankommt. Und nicht nur dann. Am morgigen Sonntag feiern Christen und Christinnen das Pfingstfest und den guten Geist, der in tragfähigen Gemeinschaften weht. Die Kraft des Zusammenhalts braucht die ganze Welt. 

 

Zur Autorin:  

Marianne Ludwig (Jg. 1958) war zuletzt Polizeiseelsorgerin bei der Landespolizei Berlin und beim Zoll in Berlin und Brandenburg. Seit April 2024 ist sie im Ruhestand, aber weiterhin als Traumatherapeutin, Supervisorin und Heilpraktikerin tätig.   

Sie studierte evangelische Theologie, Judaistik und Erziehungswissenschaften in Berlin, Göttingen und Jerusalem. Sie wurde 1989 zur Pfarrerin ordiniert und arbeitete in der Spezialseelsorge (Evangelische Familienbildungsstätte, Kinderklinik, allgemeines Krankenhaus, Polizei). 

Bild: Evangelische Kirche

Dieser Beitrag wird redaktionell von den christlichen Kirchen verantwortet.