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Politik

"Die Kurden waren gut zu uns"

Judit Neurink Erbil / ag
27. September 2017

Auf der Suche nach Stabilität und Frieden haben irakische Minderheiten für einen unabhängigen Kurdenstaat gestimmt. Sie glauben, ein kurdischer Pass könnte auch ihre Situation verbessern. Judit Neurink aus Erbil.

Irak Referendum zur Unabhängigkeit der Kurden
Bild: DW/J. Neurink

Enttäuschung über die irakische Regierung und Loyalität zur "Autonomen Region Kurdistan" im Irak, die sie aufnahm, als die Terrormiliz IS ihnen ihre Existenzgrundlage raubte - das hat viele irakische Minderheiten dazu bewegt, das kurdische Streben nach Unabhängigkeit zu unterstützen. Als die Kurden jetzt für die Abspaltung vom Irak stimmten, bezogen sie nicht nur die Minderheiten in ihrer eigenen Region mit ein, sondern auch die in anderen Gebieten, die sie für ihren neuen Staat beanspruchen.

"Das ist jetzt unsere Gemeinschaft", sagt Inaam Tomea und zeigt ihren Finger mit der blauen Tinte, die zeigt, dass sie abgestimmt hat. Sie stammt aus der Stadt Qaraqosh in der Ebene von Ninive, einst hauptsächlich von Christen bewohnt, die der IS im August 2014 erobert hatte. Die meisten Einwohner flohen nach Kurdistan und in Lager in Ankawa, der christlichen Enklave in der kurdischen Haupststadt Erbil im Nordirak. Die Kurden wollen, dass Qaraqosh Teil ihres künftigen Staates wird.

In einem der Lager in Ankawa, in  Ashti 2, wurde ein Wahllokal eingerichtet, wo die Binnenvertriebenen wählen konnten. Voraussetzung: Ihr irakischer Pass musste zeigen, dass sie aus den Regionen kommen, die die Kurden "Kurdistan"-Gebiete nennen. Das sind Gebiete, die sowohl die Kurden als auch die Zentralregierung in Bagdad beanspruchen, und deren Status gemäß der irakischen Verfassung eigentlich schon vor zehn Jahren hätte geklärt werden sollen.

Tausende Vertriebene aus umstrittenen Regionen konnten in einer Schule im christlichen Lager Ashti 2 wählenBild: DW/J. Neurink

Die Tatsache, dass diese umstrittenen Gebiete in das Referendum einbezogen wurden, ist ein maßgeblicher Grund für die - irakische und internationale - Kritik an der Abstimmung. In den Regionen leben schiitische Schabak-Minderheiten neben Christen, Turkmenen und Jesiden.

Etwa 100.000 Christen haben die vergangenen drei Jahre in Lagern und gemieteten Häusern in Ankawa verbracht. Inaam Tomea ist eine von ihnen. Sie sagt, wegen der Aufnahme, die sie erfahren hätten, "fühlen wir uns verpflichtet zu wählen". Samira Dadoo, die wie Tomea mit "ja" gestimmt hat, erklärt: "Die Kurden waren in den vergangenen drei Jahren gut zu uns."

Etwa ein Jahr, nachdem die christlichen Städte vom IS zurückerobert wurden, leert sich das Lager Ashti 2 allmählich. Die Schulen in der Heimat sind wieder eröffnet, und die Familien kehren zurück, nachdem sie ihre beschädigten und oft ausgebrannten Häuser instand gesetzt haben. Aber da ist immer noch die Angst: "Wir fürchten uns zurückzugehen", sagt Dadoo: "Wie wird es in den nächsten Jahren werden? Wird sich alles wiederholen? Kommt ein neuer IS?"

Beide Frauen hoffen, dass ein unabhängiges Kurdistan ihnen Stabilität und Frieden bringt. Auch wenn sie planen, zurückzugehen, würden sie eigentlich lieber bleiben. "Hier ist es besser", sagt Dadoo, "dort haben wir unsere Hoffnung verloren".

Die Angst vor einem Rückschlag

Während eine große Mehrheit der Kurden und anderen Minderheiten abgestimmt hat, löste das Referendum feindliche Reaktionen bei der Zentralregierung in Bagdad und in den Nachbarstaaten des Irak aus. Dazu kam die Drohung mit militärischer Gewalt in den umstrittenen Gebieten und mit Wirtschaftssanktionen, die die im Landesinneren eingeschlossenen Gebiete in Bedrängnis bringen könnten.

Nachdem sie gewählt haben, räumen vier junge Leute aus der christlichen Stadt Bartella ein, dass sie besorgt sind über die Drohungen in den sozialen Medien. Obwohl er mit "ja" gestimmt habe, sagt einer von ihnen, glaube er nicht an eine echte Veränderung - auch nicht an die Unabhängigkeit: "Sie werden es nicht erlauben und wir werden einen hohen Preis zahlen."

Erstwählerin Hanin Hamid (20) macht ein tapferes Gesicht. "Ich muss darauf vertrauen, dass die Kurden mich beschützen", sagt sie und räumt ein, dass der IS ihre Städte nur deshalb erobern konnte, weil die kurdischen Peschmerga sich zurückgezogen hatten: "Ich hoffe, sie lassen uns nicht schon wieder im Stich. Ich gebe ihnen eine neue Chance."

Auf die Frage, ob sie sich darauf freue, einen kurdischen Pass und eine kurdische Staatsbürgerschaft zu haben, zögert sie zunächst, doch dann lächelt sie: "Ja, unsere Lage wird unter einer kurdischen Herrschaft viel besser sein, als sie für uns als Teil des Irak ist." Ihre Zurückhaltung gegenüber der irakischen Regierung, die von Schiiten geführt wird und eng mit dem Iran verbunden ist, spiegelt sich auch bei anderen Minderheiten.

Zu ihnen gehören die Schabak, eine kleine ethnisch-religiöse Gruppe im Nordirak, der auch die Brüder Omar und Abdelamir Haider angehören. Sie stammen aus Telkef in der Nähe der zweitgrößten irakischen Stadt Mossul. Beide sind LKW-Fahrer und finden die Aussicht auf bessere Lebensverhältnisse genauso wichtig wie die Sicherheit und den Frieden, die sie von einem neuen Staat erwarten. "Für uns ist es genauso wie für die Kurden: Die irakische Regierung hat nichts für uns getan", sagt Omar. Sein Bruder ergänzt: "Seit Saddam Hussein sind wir verfolgt worden. Schon bevor der IS kam, hatten wir in Mossul keine Rechte."

Christen und Jesiden: Gespaltene Gemeinschaften

Für einige Minderheiten, wie etwa die Christen, ist ein Grund für ihre Unterstützung eines unabhängigen Kurdistans die Erwartung, dass ein neuer Staat ihnen die Selbstverwaltung gewährt. Es ist ein Traum, den viele teilen, seitdem die Gewalt im Irak nach dem Fall Saddam Husseins im Jahr 2003 zugenommen hat. Kak Yousef, ein christlicher Kommunist, der in der Enklave Ankawa lebt, erklärt es so: "Unser Weg ist, unsere eigene Provinz innerhalb Kurdistans zu bekommen, damit es keine Diskriminierung mehr gibt. Wir müssen das so machen!"

Doch einige christliche Organisationen, vor allem irakische Christen im Westen des Landes, sind ganz entschieden dagegen. Sie wollen nur eine christliche Provinz innerhalb des Irak; einige von denen, die in Ankawa leben, wollen sogar überhaupt keine eigene Provinz - sie wollen einfach nur ein Teil Kurdistans sein. Diese Frage hat die christliche Gemeinschaft im Irak gespalten. Kak Yousef glaubt, dass die, die nicht Teil eines kurdischen Staates sein wollen, wegen schlechter Erfahrungen in der Vergangenheit so denken: "Sie sind enttäuscht, weil sie keine Vereinbarung über ihre Rechte erreichen konnten. Sie glauben nicht, dass die Kurden ihnen wirklich eine eigene Provinz geben wollen."

Messer und Schusswaffen verboten - klare Ansage in den WahllokalenBild: DW/J. Neurink

Auch von turkmenischen Organisationen gibt es Widerstand gegen das kurdische Streben nach Unabhängigkeit, vor allem in der umstrittenen Stadt Kirkuk. Hier gibt es eine leidenschaftliche Opposition derer, die die ölreiche Stadt als turkmenisch beanspruchen. Einige von ihnen wünschen sich auch eine eigene Region; diese würde aber Gebiete umfassen, die jetzt schon anerkannter Teil der kurdischen Autonomieregion oder umstritten sind. 

Die jesidische Minderheit - von manchen als die ursprünglichen Kurden vor der Ankunft des Islams in der Region bezeichnet - ist genauso gespalten wie die christliche Gemeinschaft. Viele Jesiden, die in den vergangenen Jahrzehnten dort siedelten, wo sich das kurdische Autonomiegebiet entwickelte, unterstützen die herrschenden Parteien "Demokratische Partei Kurdistans" (KDP) von Präsident Massud Barsani und die "Patriotische Union Kurdistans" (PUK). Doch die meisten der mehr als 50.000 Jesiden, die aus der umstrittenen Provinz Sindschar flohen, als der IS im August 2014 einrückte, sind wütend, dass die Kurden sie damals nicht beschützten. Der IS konnte Tausende ihrer Angehörigen entführen und töten.

Seitdem leben sie in Lagern im kurdischen Autonomiegebiet. Viele von ihnen fürchteten, dass das Referendum zu einem Krieg zwischen Irakern und Kurden führen würde und machten sich auf den Weg Richtung Sindschar. Dabei müssen in der Region immer noch die explosiven Hinterlassenschaften der Kämpfe geräumt werden, und sie gilt als politisch instabil. Einige derer, die geblieben waren, aber für eine Abstimmung mit "nein" geworben hatten, sollen zu einem "Ja"-Votum genötigt worden sein - mit der Drohung, sie sonst aus den Lagern zu werfen.

Genau wie die Christen sind die Jesiden gespalten in der Frage, ob ihre Provinz Teil eines kurdischen Staates werden sollte, obwohl auch sie in den vergangenen Jahren kurdische Gastfreundschaft erfahren haben. Der offizielle Kurs der kurdischen Regierung ist, alle Minderheiten willkommen zu heißen. Sie will die Rolle ihres Beschützers übernehmen - eine Rolle, die der Irak hatte, bevor die Gewalt zwischen den Konfessionen explodierte. Viele sind bereit, ihr Schicksal in kurdische Hände zu geben; andere wurden in der Vergangenheit zu oft enttäuscht, um jetzt noch auf dieses Versprechen vertrauen zu wollen oder zu können.

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