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Die letzte Diktatur Europas

Ute Schaeffer19. April 2002

- Belarus orientiert sich mehr in Richtung Russland als in Richtung Europa

Köln, 19.4.2002, DW-radio

Der autoritäre belarussische Staat, in dem alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens kontrolliert und jede Opposition systematisch unterdrückt wird, ist das Werk von Präsident Aleksandr Lukaschenka, der seit 1994 an der Macht ist. Er betrieb in den vergangenen Jahren die politische und wirtschaftliche Union zwischen Belarus und Russland. Heute ist Belarus unter allen Nachfolgestaaten der Sowjetunion derjenige mit den intensivsten politischen und wirtschaftlichen Verbindungen zu Russland; Lukaschenkas Ziel ist die vollständige politische und wirtschaftliche Union mit dem mächtigen Nachbarn.

Viele Weißrussen befürworten die enge Zusammenarbeit mit Russland, die Zusammenarbeit mit Europa ist in ihren Augen nicht so wichtig. Die Achse Minsk - Moskau habe sich doch bewährt, meinen sie. Auch Aleksandr denkt so. Er wohnt mit seiner Familie in einem Vorort von Minsk. Seine Geschwister leben zum großen Teil in Russland. Wie viele Weißrussen fühlt er sich mit Russland eng verbunden:

"Ich bin dafür, dass sich Russland und Weißrussland vereinen. Mein Bruder wohnt in Russland. Das wäre ein sehr starker Staat. Meine Frau ist aber dagegen."

Präsident Lukaschenka wurde erst im vergangenen Jahr in seinem Amt bestätigt und wird weitere fünf Jahre das Land regieren. Im belarussischen Volk genießt er eine gewisse Popularität:

"Es gefällt den Leuten, wie hart Lukaschenka mit dem Westen umgeht und wie freundlich er zu Russland ist. Ihnen gefällt, dass er genauso ein einfacher Mensch ist wie sie selber. Ihnen gefällt, dass er regelmäßig Staatsbeamte feuert, die er selbst eingestellt hat. Man kann nicht sagen, dass die Leute ihn nicht unterstützen."

Das wichtigste Argument für Lukaschenka ist die relative Stabilität, in der die meisten Menschen in Belarus leben. Die Weißrussen wissen das zu schätzen, auch der 43-Jährige Aleksandr. Mit westlichen Augen ist von dieser Stabilität allerdings wenig zu sehen: Aleksandr wohnt in einem der heruntergekommenen Plattenbauten in einem Vorort von Minsk. Die Dreizimmerwohnung auf der achten Etage ist eng. Aleksandr lebt hier mit seiner Frau Lena, seinen zwei fast erwachsenen Kindern und dem Schwiegervater, der im Krieg noch gegen die Deutschen gekämpft hat. Alles in allem gehe es ihnen doch gut, meint Aleksandr und erklärt, warum er den Präsidenten unterstützt:

"Wir spüren keine Unterschiede. Unser Leben heute ist genauso wie früher. Aber ich bin zufrieden. An den Präsidentschaftswahlen konnte ich nicht teilnehmen, weil ich in dieser Zeit nicht da war, aber ich hätte meine Stimme Lukaschenka gegeben. Der Mann gefällt mir. Mein Leben hat sich doch verbessert. Ich konnte mir ein Auto kaufen. Die Hauptsache ist doch, dass es bei uns keinen Krieg gibt und unsere Kinder keine Angst haben, in die Schule zu gehen. Ich arbeite drei Tage und habe dann drei Tage frei. ... Ich habe früher umgerechnet ca. 100 Dollar verdient, jetzt verdiene ich 250 Dollar."

"Ich bin inzwischen selbständig. Früher verdiente ich als Erzieherin im Kindergarten ungefähr 30 Dollar. Jetzt verdient man dort 50 bis 70 Dollar", sagte seine Frau.

Viele denken so wie Aleksandr und Lena. Sie sind schon zufrieden damit, dass Einkommen, Renten und Stipendien regelmäßig gezahlt werden, auch wenn sie gering sind. In der Ukraine und in Russland ist das nicht immer der Fall. Auch für die Bildung der Kinder sei gesorgt, meint Lena:

"Für die Schule müssen wir nicht zahlen. Unsere Tochter hat sehr gute Noten gekriegt. Wenn die Noten schlechter wären, müssten wir zahlen: 600 bis 1000 Dollar jährlich. Und wenn unsere Tochter weiterhin genauso gut lernt, wird der Staat ihr auch einen guten Job besorgen."

Aleksandr ist als Arbeiter in einem Fliesenwerk angestellt, und das schon seit mehr als zwanzig Jahren. In dieser Zeit hat sich sein Einkommen verdreifacht Im vergangenen Jahr hat Aleksandr eine Gehaltserhöhung bekommen. Das war kurz vor den Wahlen - ein Wahlgeschenk Lukaschenkas. In dem von ihm geschaffenen sogenannten "Marktsozialismus" kontrolliert der Staat immer noch die Preise, aber auch das Management privatisierter Betriebe. Auch Aleksandr sieht, wie sich in seinem Werk Plan- und Marktwirtschaft mischen - ohne dass die breite Masse der Beschäftigten davon etwas merkt. Die Strippenzieher und Profiteure im Hintergrund bleiben unsichtbar. Doch habe diese Entwicklung in der Fabrik für kleine Fortschritte gesorgt, meinen Aleksandr und sein Kollege Sergej:

"Meine Arbeitsbedingungen sind besser geworden. Unsere Fabrik produziert Ziegel, Kacheln und so weiter. Sie hat jetzt neue Maschinen und wir verdienen auch mehr. Die Gehälter werden regelmäßig bezahlt."

"Früher arbeiteten bei uns sehr viele Leute, die anstelle einer Gefängnisstrafe zur sogenannten 'Chemie-Arbeit' verurteilt wurden. Jetzt aber stellt unsere Fabrik nicht jeden Bewerber, der bei uns arbeiten will, ein", fügt Sergej hinzu.

"Aus der Fabrik ist eine Aktiengesellschaft geworden. Die meisten Aktien haben unsere Chefs natürlich. Die Arbeiter haben ca. 50 - 100 Aktien, die Chefs - 1000, 3000 und mehr. Unsere Chefs können sich ein schönes Leben leisten, ohne dafür zu arbeiten."

Aleksandrs Frau Lena stammt aus dem Westen des Landes. Sie fühlt sich als Europäerin, ihr Mann hingegen sieht die herannahenden EU-Grenzen und die künftige neue Nachbarschaft von Belarus und der EU mit Gleichgültigkeit:

"Wenn die EU näher zu uns kommt, wird das letztendlich nichts ändern. Es wird aber auch nichts schlechter dadurch. Mir ist das egal. Ob Russland der NATO beitritt oder nicht - Hauptsache es gibt keinen Krieg. Ich will, dass Russland die gleichen Rechte hat wie die USA und dass beide Länder einander freundlich gesinnt sind. Viele meiner Bekannten sind in die USA ausgewandert. Sie verdienen dort viel Geld und besitzen sehr viel. Und sie laden uns ein. Ich bin aber auch hier zufrieden. Ich würde mir gerne die Welt angucken, später aber zurückkehren." (lr)