Warum das Bild von Aylan Kurdi Geschichte schreiben wird
8. September 2015Deutschlands auflagenstärkste Zeitung verzichtet erstmals in ihrer Geschichte auf redaktionelle Fotos. "Wir wollen damit zeigen, wie wichtig Fotos im Journalismus sind!", heißt es seitens der Redaktion. "Die Welt muss die Wahrheit sehen, um sich zu verändern." Aber es gibt solche und solche Bilder: Es gibt Fotos, die brennen sich ins Gedächtnis. Und andere, seien sie noch so grausam, die den Betrachter nicht berühren und schnell im Nirwana seines Gedächtnisses verschwinden. Was macht eine Fotografie zu einer Ikone? Wie schaffen es Bilder, nicht bloß einen Augenblick festzuhalten, sondern den Zeitgeist oder komplexe Zusammenhänge in einer einzigen Aufnahme zu verewigen?
Zu welcher Kategorie gehören die Bilder von Aylan Kurdi, des dreijährigen syrischen Jungen, der im Mittelmeer ertrank und am 2. September an der türkischen Küste in der Nähe von Bodrum gefunden wurde? In den sozialen Medien haben die Aufnahmen für heftige Reaktionen und Emotionen gesorgt. Und nicht nur dort. Die politische Debatte um Europas Flüchtlinspolitik änderte sich nach der Veröffentlichung.
Nicht jedes Schreckensbild wird zur Ikone
Der Kunsthistoriker Felix Hoffman glaubt an die Kraft der Bilder, daran, dass Bilder Denken und Handeln beeinflussen und verändern können. Aber nur wenn sie eine gewisse Zeit überdauern und sich in den Köpfen der Menschen festsetzen. Hoffmann beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Wirkung der Fotografie. In der Fotogalerie c/o Berlin untersuchte er zehn Jahre nach dem 11. September 2001 die apokalyptischen Bilder des Terroranschlags und ging der Frage nach, warum uns einige für immer im Gedächtnis haften geblieben sind.
Die Fotografie besitze die Fähigkeit, Katastrophen zu vermenschlichen, ihnen ein Gesicht zu geben, sagte Hoffmann der Deutschen Welle. Ohne solche Fotografien würden viele Menschen die Ausmaße von Krieg und Katastrophen gar nicht nachvollziehen können.
"Bei diesen Fotografien von Aylan Kurdi handelt es sich um ein gutes Beispiel für die Kraft der Bilder", sagt er. "Es handelt sich um einen besonders schweren Augenblick, in dem sich Europa zur Zeit befindet. Jetzt ist die Frage, wie lange sich dieses Bild in den Medien halten kann."
Hoffmann, der selber Vater ist, sei "emotional schockiert" gewesen von der Wirkung, die das Bild des toten dreijährigen Jungen am Strand in der Nähe von Bodrum bei ihm ausgelöst habe. Die Flut von Flüchtlingen, die man täglich in den Medien sieht, habe dadurch eine persönliche Geschichte bekommen. Hinzu komme, dass sich viele Menschen damit identifizierten und sich sagten: "Dort könnte auch mein Kind liegen."
Wirkung von Fotografie stärker als Fernsehen
Kunsthistoriker wie er seien darin geschult, Bilder auf ihre Wirkmechanismen hin zu untersuchen. Schon der französische Fotojournalist Henri Cartier-Bresson habe seinen Beruf ein "Geschäft mit dem entscheidenden Augenblick" genannt. "Fotografieren bedeutet, den Kopf, das Auge und das Herz auf dieselbe Visierlinie zu bringen", sagte der Journalist und Mitbegründer der Fotoagentur Magnum einmal. Auch Cartier-Bresson berichtete aus Kriegsgebieten und schrieb mit seinen Bildern Geschichte. Doch mit der Live-Berichterstattung habe sich die Beziehung zwischen Zuschauer und Journalist verändert, sagt Hoffmann.
Der Foto-Kurator erinnert an die Olympischen Sommerspiele in München im Jahr 1972, die von der Geiselnahme und Ermordung israelischer Athleten überschattet wurden. "Zum ersten Mal in der Geschichte konnten die Zuschauer ein Attentat live im Fernsehen verfolgen". Der Terror sei sozusagen in die Wohnzimmer der Menschen vorgedrungen.
Aber auch trotz permanenter Live-Berichterstattung und dem Dauerrauschen sozialer Netzwerke bliebe das Foto das stärkste Medium, um eine Tragödie festzuhalten. Bei aller Flut von Informationen, komme es auch weiterhin auf die Qualität eines Bildes an, betont Hoffmann.
Nur wenige Bilder können die Weltöffentlichkeit aufrütteln
Bilder von Katastrophen oder menschlichen Tragödien, wie die Ermordung von US-Präsident John F. Kennedy 1963 oder das Foto des nackten neunjährigen Mädchens Kim Phùc in Vietnam, das nach einem Angriff mit Napalmbomben 1972 mit schwersten Verbrennungen auf der Haut vor den Angriffen floh, hingen sich die Menschen natürlich nicht in ihre Wohnzimmer. Aber sie sind zu Ikonen der Geschichte geworden. Sie bildeten das Dekor für die Narrative unserer Zeit, sagt Hoffmann. Niemand könne sich noch genau daran erinnern, wann genau er diese Bilder gesehen habe, aber sie seien Teil des kollektiven Bildgedächtnisses geworden. Zumindest im Westen, meint Hoffmann.
"Das hat viel damit zu tun, wie wir mit Geschichte und Bildern umgehen. Sie können überall beobachten, welche Kraft Bilder haben." Das zeige nicht nur das Bild von Aylan Kurdi. Letztlich sei es unsere Entscheidung, ob wir uns so ein Bild ansehen oder lieber wegschauen. Empathie würden wir manchmal erst dann empfinden, wenn wir uns in einer Art ambivalenter Liebesbeziehung mit einem Bild befänden, auch dann wenn ein Mensch stirbt. In der Flut der Bilder von Leid, Schmerz oder Leidenschaft würden nur diejenigen zur Ikone, die so ein Mitleid in uns auslösten, auch weil sie zeigen, was wirklich geschehe.