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Die Macht der Dorfräte

Srinivas Mazumdaru30. Januar 2014

Die jüngsten Berichte über eine Massenvergewaltigung in Indien werfen ein Schlaglicht auf das Leben in der indischen Provinz. Hier wird das Denken oft noch von archaischen Strukturen und extremem Kastendenken bestimmt.

Wegen mutmaßlicher Teilnahem an einer Gruppenvergewaltigung werden diese Verdächtigen in Westbengalen von der Polizei abgeführt (Foto: afp)
Bild: STRDEL/AFP/Getty Images

Subalpur ist ein kleines, abgelegenes Dorf, weit weg von den pulsierenden Ballungszentren Indiens. 180 Kilometer sind es von hier bis nach Kolkata, der Hauptstadt des Bundesstaates Westbengalen. Eigentlich ein Dorf wie tausende andere, doch in der vergangenen Woche wurde Subalpur zum Schauplatz einer brutalen Gruppenvergewaltigung an einer 20-jährigen Dorfbewohnerin. Dies war der bislang letzte Fall in einer ganzen Reihe von erschütternden Missbrauchsfällen in Indien, die für weltweite Schlagzeilen gesorgt hatten.

Nach Angaben der Polizei waren am 20. Januar rund ein Dutzend Männer auf Befehl des örtlichen Dorfrates mehrfach über die junge Frau hergefallen. Sie war vom Dorfvorsteher beschuldigt worden, eine Liebesbeziehung mit einem muslimischen Mann aus einer anderen Volksgruppe begonnen zu haben. Die Polizei nahm bislang 13 Verdächtige fest. Der Oberste Gerichtshof in Neu Delhi bezeichnet den Vorfall als "verstörend" und ordnete eine Untersuchung an.

Tradition gegen Moderne

Das Ausmaß sexueller Gewalt in Indien ist zu einem international viel beachteten Thema geworden, seit im Dezember 2012 eine junge Medizinstudentin in einem Bus in Neu Delhi Opfer einer Massenvergewaltigung wurde, an deren Folgen sie verstarb. Das brutale Verbrechen warf ein Schlaglicht auf die Situation der Frauen in Indien und sorgte für eine Verschärfung der Gesetze gegen Sexualverbrechen.

Frauen haben unter der rigiden Rechtsprechung der Dorfräte am meisten zu leidenBild: DW

Der jüngste Fall in Westbengalen wirft darüber hinaus auch ein Licht auf die traditionellen, aber gesetzlich nicht legitimierten Dorfräte. Sie stehen für den Konflikt zwischen uralten feudalen Traditionen und modernen Werten in Indien. In diesen Räten sitzen keine gewählten Vertreter, sondern Menschen, die aus traditionellen Strukturen heraus zur Spitze der Dorfhierarchie gehören. Diese Räte halten eigene Dorfgerichte ab, um lokale Streitigkeiten zu lösen. Oft wird ihnen aber auch vorgeworfen, Mitglieder der eigenen Dorfgemeinschaft zu bestrafen, wenn diese sich gegen die "traditionellen Werte" der Gemeinschaft stellen.

Verschiedene Wertsysteme

In den vergangenen Jahren haben viele Dorfälteste immer striktere Regeln für das soziale Zusammenleben erlassen. Liebesheiraten wurden verboten, Frauen wurden züchtige Dresscodes verordnet und der Zugang zu Mobiltelefonen verwehrt. Diese Verbote sollten "die moralischen Werte" und die "lokalen Sitten" der Dorfgemeinschaft aufrechterhalten.

Nichtregierungsorganisationen und Frauenrechtler kritisieren die Dorfräte schon lange. Teilweise vergleichen sie deren archaisches Rechtsverständnis sogar mit denen der Taliban in Afghanistan und Pakistan. Ranjana Kumari, Direktorin am Zentrum für Sozialforschung in Neu Delhi, erklärt, dass die Dorfräte Überreste eines antiken feudalen Systems sind, das mit Einführung der Demokratie in Indien längst überwunden sein sollte. "Das ist aber gerade im ländlichen Raum nicht der Fall, und der Einfluss der Dorfräte auf ihre Gemeinschaften ist bis heute immens", so Kumari gegenüber der DW.

Vor allem in der Provinz, wo die indischen Strafverfolgungsbehörden nur wenig zu sagen haben, setzen die Dorfräte ihre eigene Rechtsprechung rigoros durch. Gerade in erzkonservativen, patriarchal geprägten Regionen hindert niemand sie daran, über junge Paare zu richten, die es wagen, soziale Grenzen zu missachten. Jedem, der die Regeln bricht, droht soziale Ausgrenzung bis hin zur körperlichen Züchtigung. Der jüngste Übergriff auf die junge Frau in Westbengalen zeigt, wie weit die Dorfräte gehen, um die totale Kontrolle über ihre Dorfgemeinschaften aufrechtzuerhalten.

Keine rechtliche Grundlage

"Diese informellen Dorfräte verhängen häufig unmenschliche Strafen, wenn sie glauben, dass etwas gegen ihre gesellschaftlichen Normen verstößt – etwa, wenn ein Paar heiraten will, ohne dass sie dem zustimmen", sagt Menschenrechtsaktivistin Kumari. Ihr zufolge ordnen diese "Gerichte" auch so genannte Ehrenmorde an, indem sie Verwandte förmlich dazu auffordern, "ihr Recht selbst in die Hand zu nehmen".

Immer öfter gehen die Menschen in Indien auf die Straße, um gegen die sexuelle Gewalt in ihrem Land zu protestierenBild: AP

Indira Jaising, Richterin am Obersten Gerichtshof von Neu Delhi, erklärt, dass die Dorfältesten ohne jegliche gesetzliche Grundlage arbeiten. Sie verfestigen die Trennung nach Kasten und verhindern auch kastenübergreifende Hochzeiten: "Eine solche Heirat führt unweigerlich zu schweren Gewalt- und Racheakten", so die Rechtsexpertin gegenüber der DW.

Nach Angaben der Vereinten Nationen kommt es weltweit zu rund 5.000 Ehrenmorden im Jahr. Ein Fünftel von ihnen werden in Indien begangen – vor allem in Regionen, in denen Landbesitz und Kastensystem noch immer eine wichtige Rolle im Leben der Menschen spielen.

Politische Rückendeckung

Die Dorfräte unterhalten auch vielseitige Verbindungen in die Politik. "Politiker bestätigen diese Verbindungen selten. Aber es gibt unausgesprochene Vereinbarungen. Viele Politiker tolerieren die Macht der Dorfräte, und diese sorgen dann dafür, dass die Dorfgemeinschaft deren Partei wählt." Kumari fügt hinzu, dass auch die Regierung häufig keinerlei Bedenken gegenüber den Dorfräten habe.

Dennoch reagierte die Provinzregierung in Westbengalen schnell, als die Massenvergewaltigung im kleinen Dorf Subalpur bekannt wurde, und ließ alle Beschuldigten verhaften. Aktivisten sind allerdings überzeugt, dass die angeordnete Vergewaltigung nur das Symptom eines tieferliegenden Problems ist, das weder durch Verhaftungen noch durch höhere Strafen gelöst werden kann. "Das Verbrechen ist ein Beispiel für die gefährliche Macht, die die Dorfräte im ländlichen Indien haben", erklärt Menschenrechtsaktivistin Kumari: "Und solange diese ihre Macht behalten, werden Verbrechen wie die Massenvergewaltigung unvermindert weitergehen."

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