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Die Metamorphosen des Wladimir Putin

Mathias Bölinger6. Oktober 2015

Der russische Journalist Michail Sygar hat den Aufstieg Putins zum mächtigsten Präsidenten Russlands seit Jahrzehnten nachgezeichnet. Er zeigt, wie stark paranoides Denken die russische Machtelite im Griff hat.

Wladimir Putin (Foto: AFP)
Bild: AFP/Getty Images/A. Nikolsky

Moskau 2004. Ein Empfang zu Ehren der russischen Armee. Der Staatspräsident steht den ganzen Abend mit seinem Geheimdienstchef tuschelnd in einer Ecke. Am nächsten Morgen ruft er seinen Premierminister, den wirtschaftsliberalen Politiker Michail Kasjanow, zu sich und bittet ihn zurückzutreten. Er wisse, sagt Wladimir Putin zu Kasjanow, dass dieser an einer Verschwörung beteiligt sei, die die Präsidentenwahlen sabotieren solle. Er wisse auch, dass sein Mitverschwörer der österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel sei. Kasjanow tritt zurück.

Diese skurrile Anekdote gibt der russische Journalist Michail Sygar wieder, der in Berlin sein Buch "Endspiel - die Metamorphosen des Wladimir Putin" vorstellt.

"Putin hat keinen Plan"

Jahrelang hat Sygar mit ehemaligen und aktuellen Weggefährten des russischen Präsidenten gesprochen. Den Aufstieg Putins zum unangefochtenen und gefürchteten Staatschef beschreibt Sygar als eine Kette von Zufällen und Enttäuschungen. "Putin ist kein Stratege, er hat keinen Plan", glaubt der Journalist.

Klare Worte: Journalist und Buchautor Michail SygarBild: Anna Lavrowa

Der 34-Jährige ist Chefredakteur des kritischen Fernsehsenders Dozhd, der seit Jahren unter Druck steht. Mit seinem Buch wehrt er sich gegen die Überhöhung Putins als ausgebuffter und genialer Strippenzieher, wie sie im Westen dämonisierend und in der offiziellen russischen Presse bewundernd gepflegt wird.

Das Bild, das er von Wladimir Putin zeichnet, ist das eines Mannes, der nach Anerkennung sucht. Sygar beschreibt, wie der unbekannte Präsident zu Beginn seiner ersten Amtszeit versucht, die führenden Politiker der westlichen Staaten zu umgarnen. Wie er für Tony Blairs Besuch einen prunkvollen Opernabend inszenieren lässt und den wiedergeborenen Christen George Bush mit einer kleinen Wundergeschichte bezirzt. Als seine Datscha abgebrannt sei, erzählt er Bush, sei das einzige, was heil geblieben sei, ein kleines hölzernes Kreuz gewesen. Das Ziel des Präsidenten ist, dass die westlichen Herrscher ihn als ebenbürtig betrachten.

In dieser Zeit habe der Präsident sogar mehrmals versucht, der NATO-Führung deutlich zu machen, dass Russland gerne dem Verteidigungsbündnis beitreten werde. Allerdings hatte er eine besondere Einladung erwartet - eine Vorzugsbehandlung vor den anderen Beitrittskandidaten. Die Einladung kam nie. "Das war ein schwerer psychischer Schlag für Putin", sagt Sygar. "Und meiner Meinung nach ein schwerer Fehler der NATO." Denn damit beginnt die Metamorphose Putins. Der Zurückgewiesene wird zum Rächer an denen, die ihm die Anerkennung verweigert haben.

"Hysterie und Paranoia"

Sygar ist weit davon entfernt, in den gekränkten Tonfall des russischen Establishments einzustimmen. Vielmehr geht es ihm darum, das Abgleiten der russischen Führung und des Staates in die aggressive Weltsicht nachzuzeichnen, die letztlich zu dem Krieg in der Ostukraine und dem militärischen Eingreifen in Syrien geführt habe. "Die meisten Deutschen, die glauben, Putin zu verstehen, wären überrascht über das Ausmaß an Hysterie und Paranoia, das in Russland vorherrscht", glaubt Sygar.

Das Interessante an dem Buch "Endspiel" ist die detaillierte Rekonstruktion dieser Wandlung. Sygar, der nie persönlich mit Putin gesprochen hat, erzählt die Veränderung des Präsidenten anhand von 19 Schlüsselfiguren aus Putins Umgebung. Dazu gehören Weggefährten wie Chefideologe Wladislaw Surkow oder Interimspräsident Dmitri Medwedew aber auch Gegner wie der frühere georgische Präsident Michail Saakaschwili oder der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny.

Werben um Anerkennung: Wladimir Putin spricht als erster russischer Präsident 2001 vor dem Deutschen BundestagBild: picture-alliance/dpa

Es ist eine Familienaufstellung der russischen Machtelite. Sygar knüpft damit auch an die Zeit des Kalten Krieges an, in der Beobachter versuchten, aus Personenkonstellationen im Politbüro auf die Pläne der Machthaber zu schließen. Zur Buchpräsentation hat der Verlag den Grünen-Politiker Werner Schulz dazugebeten, ehemaliger Bürgerrechtsaktivist in der DDR und Kenner Russlands. Müller nennt das Buch eine "Pflichtlektüre für Kreml-Astrologen".

"Belagerte Festung"

Die Schlussfolgerungen aus dieser Analyse müssen entsprechend pessimistisch ausfallen. In den Augen Putins und seiner Getreuen sei Russland eine "belagerte Festung", schreibt Sygar.

In dieser Logik erscheint auch das Eingreifen Russlands an der Seite des syrischen Diktators Assad folgerichtig. Assad habe "sehr glücklich gewirkt", als Russland 2008 im Georgien-Krieg den Konflikt mit dem prowestlichen Georgien gesucht habe, erzählt Sygar, der den syrischen Diktator wenig später interwiewen konnte. "Seitdem hat Assad darauf gewartet, dass Putin für ihn eintritt. Nun hat sich seine Hoffnung erfüllt."

Die Waffenbruderschaft zwischen Putin und Assad beruhe auf der gemeinsamen Überzeugung, dass Nachgeben gegenüber dem Westen den eigenen Untergang bedeute. Eine aufbegehrende Bevölkerung sei dann eine vom Westen gesteuerte Aggression. Sollte Putins Macht in Russland jemals herausgefordert werden, ist sich der Buchautor sicher: "Putin wird sich nicht so verhalten wie Mubarak oder Janukowitsch." Die Präsidenten Ägyptens und der Ukraine mussten unter dem Druck der Demonstrationen ihren Posten räumen. "Putin", sagt Sygar, "wird sich verhalten wie Assad."

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