1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Angehörige trifft mutmaßlichen Mörder

Ekaterina Sotnik mo
19. Februar 2020

20 Jahre nach dem Verschwinden des weißrussischen Innenministers Juri Sacharenko hat sich seine Tochter mit einem mutmaßlichen Tatbeteiligten getroffen. Er berichtet von der Entführung und dem Mord an ihrem Vater.

Still DW-Beitrag | Entführung des weißrussischen Innenministers Juri Zakharenko | Elena Sakharenka
Bild: DW

"Ich hätte nie gedacht, dass ich einen der Beteiligten am Mord meines Vaters treffen würde", sagt Jelena Sacharenko leise. Sie hat kaum geschlafen und steht in Zürich blass vor einer Tür, hinter der auf sie der einstige Angehörige der Sondereinheit des weißrussischen Innenministeriums "SOBR", Juri Garawski, wartet.

Einige Wochen zuvor hatte Garawski gegenüber der DW erklärt, er sei im Jahr 1999 an der vermutlichen Entführung und Ermordung von Jelenas Vater, dem weißrussischen Innenminister Juri Sacharenko, aber auch des Leiters der Zentralen Wahlkommission, Viktor Gontschar, sowie des Geschäftsmanns Anatoli Krassowski beteiligt gewesen. Alle drei waren damals Gegner von Präsident Alexander Lukaschenko, der bis heute das Land regiert. Die Ermittlungen in den Fällen wurden nie abgeschlossen und Sacharenko ist noch immer nicht für tot erklärt.

Nach Garawskis Erklärung bat Jelena Sacharenko um ein Treffen. "Ich will ihm in die Augen sehen und spüren, ob er die Wahrheit sagt", betonte sie im Vorfeld. Lange Zeit habe ihre Familie befürchtet, Juri Sacharenko sei langsam zerstückelt und getötet worden. Nun wolle sie wissen was genau passiert sei. "Dann wird sich meine Seele irgendwie beruhigen", hofft die 44-jährige Jelena, die seit 20 Jahren in Deutschland lebt. Nach dem Verschwinden ihres Vaters erhielt sie mit ihrem Sohn sowie ihre jüngere Schwester und Mutter politisches Asyl in der Bundesrepublik. 

Fotos aus Weißrussland: Jelena Sacharenko in ihrer Wohnung in DeutschlandBild: DW

Nicht mit Ermordung gerechnet

Der damalige Innenminister bereitete seine Familie darauf vor, dass ihm etwas zustoßen könnte. Dennoch wollte er die Politik nicht verlassen. Sacharenko, der einst Lukaschenko unterstützte, gehörte Ende der 1990er Jahre zu den Anführern der Opposition. Sein Ziel war die Absetzung von Präsident Lukaschenko, den er als Diktator betrachtete.

Sacharenko fiel auf, dass er überwacht wird. Eines Tages fuhr er absichtlich in eine Sackgasse, öffnete die Tür des Autos, das ihm folgte, und sagte: "Jungs, Ihr arbeitet schlecht." Später erzählte er seiner Familie, in dem Wagen hätten mehrere junge Männer gesessen. Mit einer Verhaftung habe ihr Vater gerechnet, aber nicht mit einer Ermordung, erinnert sich Jelena.

Die Frau mit dunklen Haar und hellen Augen spricht langsam und ergriffen. Vor dem Treffen in Zürich ist ihr bange. Doch das Gespräch mit Garawski ist für sie die einzige Möglichkeit, die Wahrheit herauszufinden: "Ich werde nicht an sein Gewissen appellieren, nicht gegen ihn in den Krieg ziehen. Ich weiß, dass er in den Strudel der Polizei-Maschinerie geraten war. Es gab für ihn keinen Ausweg. Ich beschuldige ihn nicht."

Aus dem Archiv der Tochter: Juri Sacharenko in den 1990er Jahren in WeißrusslandBild: Privat

Flucht aus Weißrussland in die Schweiz

Der 41-jährige Juri Garawski ist fast zwei Meter groß. Er humpelt stark, ist aber froh, überhaupt noch laufen zu können. In der Schweiz, wohin er Ende 2018 geflohen war, wurde er an seiner Hüfte operiert. Grund war eine Verletzung durch einem Autounfall in Minsk, den Garawski für ein Attentat gegen ihn hält, mit dem er zum Schweigen gebracht werden sollte. Er hofft, in der Schweiz Asyl zu bekommen. Den Behörden hält er vor, seine Beteiligung an den Morden, die sie nur für einen Thriller halten würden, zu bezweifeln. Die eigentlichen Gründe für seine Flucht will er jedoch im Gespräch mit der DW nicht näher erklären.

Einem Treffen mit Jelena stimmte Garawski nicht sofort zu. Er befürchtete, sie würde sich "auf ihn stürzen und beschuldigen". Doch nach einer DW-Doku, die auf einem Interview mit Garawski basiert, änderte er seine Meinung. Er hörte nämlich, wie Jelena Sacharenko sagte, dass nicht Juri Garawski schuld sei, sondern das herrschende System. "So ist es. Ich war damals 20 Jahre alt. Ich habe den Mord an ihrem Vater nicht initiiert", sagt Garawski. Er sei nur ein Zahnrad im System gewesen – ein Gedanke, mit dem er sich offenbar gerne entlastet.

Juri Garawski spricht mit der DWBild: DW

Schwieriges Aufeinandertreffen in Zürich

Zu Beginn des Gesprächs bei der Neuen Zürcher Zeitung, die ihre Räume zur Verfügung gestellt hat, seufzt Jelena schwer und sagt: "Sie haben meinen Vater zuletzt gesehen, ich vertraue Ihnen." Jelena will alles wissen, wie ihr Vater überwacht, entführt und getötet wurde.

Beide durften das Gespräch jederzeit abbrechen, doch Garawski berichtet bereitwillig, wie Sacharenko gepackt wurde, ihm Handschellen angelegt wurden und er ins Auto gezerrt wurde. Schweigend seien sie aus der Stadt gefahren, nur das Radio habe gespielt. Später sei ihr Vater auf den Boden gelegt worden. Der Gründer der Sondereinheit "SOBR", der damaligen Oberstleutnant Dmitri Pawlitschenko, habe zweimal geschossen. Dann sei die Leiche in einem Wachstuch im Kofferraum verstaut und zum Krematorium gebracht worden. "Er lag mit seinem Gesicht zum Boden, genauso war es bei Gontschar und Krassowski. Ihnen allen wurde in den Rücken geschossen", so Garawski.

Auch die Überwachung, darunter die Begebenheit in der Sackgasse, konnte Garawski bestätigen, da er von ihr schon vor 20 Jahren von jenen "Jungs" gehört hatte. Wie es sich nun herausstellt, waren sie Garawskis Kollegen.

Jelena hört zu ohne zu weinen. Nach zwei Stunden schreit Garawski "Pause, Pause!" und steht mit Mühe auf. Vom langen Sitzen schmerzt sein operiertes Bein. Stehend zeigt er Jelena eine Karte: "Hier ist der Schießstand von Woloschtschina, hier die Zufahrt, und auf dieser Straße wurde ihr Vater getötet."

Juri Garawski nach dem Treffen mit Jelena Sacharenko in ZürichBild: DW

Bereitschaft zu einer Haftstrafe

Nach dem Treffen zündet sich Juri Garawski draußen eine Zigarette an. "Ich bin ausgequetscht wie eine Zitrone, emotional erschöpft", sagt er. Es sei immer schwer, die Wahrheit zu sagen. "Mir ist klar, dass ich der Mörder eines Vaters, Ehemanns und Sohnes bin", so Garawski. Er bedauert, dass er sich nicht mehr an alles erinnert, beispielsweise was Sacharenko damals trug.

Auch wenn Jelena Juri alles fragen konnte, was sie wollte, und sie sich jetzt sicher ist, dass Garawski nicht lügt, ist ihr nach dem Treffen ums Herz dennoch nicht leichter. Die Einzelheiten über den Tod ihres Vaters erfüllen sie mit tiefer Trauer. "Ich schaute ihm in die Augen und er mir auch. Ich habe bei ihm grenzenlose Schuldgefühle gesehen", so Jelena. Sie will, dass Garawski auch nach seinem Geständnis am Leben bleibt, und hofft, dass er vor Gericht aussagen wird.

Garawski betont, dazu bereit zu sein. Er sei auch bereit, eine Haftstrafe zu verbüßen, allerdings nur in einem europäischen Land. Auf keinen Fall in Weißrussland, da er dort um sein Leben fürchten müsse.

Ekaterina Sotnik Autorin
Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen