1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Die Nacht der blutigen Nasen

Mathias Liebing aus Leipzig
26. Oktober 2017

Auch beim 5:4-Sieg im Elfmeterschießen in Leipzig sucht der FC Bayern mit Trainer Jupp Heynckes nach seiner alten Stärke. Vom "Mia san mia"-Fußball ist das Team noch weit entfernt, bleibt vorerst aber erfolgreich.

DFB-Pokal 2017/18 | RB Leipzig - Bayern München | Jupp Heynckes
Nach Nasenbluten im Trainingsanzug: Bayern-Coach HeynckesBild: Imago/C. Schroedter

Timo Werner stockt im Anlauf, hält kurz inne und schießt den schon liegenden Bayern-Keeper Sven Ulreich an. Aus und vorbei. Zwei Stunden und 45 Minuten nach Beginn der Zweitrunden-DFB-Pokalpartie war diese entschieden. Aber auch nicht mehr. Denn wenn das Aufeinandertreffen beider Vereine so etwas wie ein Machtkampf um die Vorherrschaft im deutschen Fußball geworden ist, dann gab es in einer denkwürdigen Nacht von Leipzig zwei Sieger. Oder aber keinen.

Der Schwede Emil Forsberg hatte Rasenballsport Leipzig in der 68. Spielminute per Elfmeter 1:0 in Führung gebracht, nachdem das Heimteam zuvor schon in zwei weiteren Situationen Strafstoß forderte. Der Ausgleich gelang den Bayern fünf Minuten später, nachdem Jerome Boateng den durchgestarteten Thiago bediente, so dass dieser sehenswert aus sechs Metern einköpfen konnte. Der Ausgleich war eine der wenigen Situationen, in denen die Überzahl der Bayern optisch deutlich wurde. Naby Keita, der Robert Lewandowski bei einem Konter der Bayern minimal am Trikot zupfte, musste schon in der 54. Spielminute mit einer gelb-roten Karte vom Platz.

"Mia san mia"-Bayern auf der Suche

Unfreiwillig wurde Bayern-Trainer Jupp Heynckes zum Sinnbild der Partie. Denn die blutige Nase, die ihn in der Halbzeit aus dem Hemd in die Trainingsjacke zwang, haben sich auch seine Spieler geholt. Glücklich und begünstigt von mehreren zumindest fragwürdigen Schiedsrichterentscheidungen retteten sie sich in der Verlängerung und trotz Überzahl letztlich erst im Elfmeterschießen über die Ziellinie.

Das "Mia san mia"-Phänomen

01:29:53

This browser does not support the video element.

Der atmosphärische Fußballabend in der mit 42.558 Zuschauern ausverkauften WM-Arena machte vor allem eines deutlich: Die "Mia san mia"-Bayern sind auf der Suche. Nach sich selbst. Dabei hätte es in Leipzig so einfach sein können: Gleich nach wenigen Sekunden bekamen die Bayern eine Chance auf dem Silbertablett serviert. Der Freistoß von Arjen Robben, quasi eine kurze Ecke, verpuffte aber. So wie auch die Angriffsbemühungen der Münchener, die nur sporadisch über die Außen, speziell über Arjen Robben, gefährlich wurden. Erst als Leipzig in Unterzahl weiterspielen musste und sich die Gestalt der Partie zwangsläufig änderte, kamen die Bayern zu zahlreichen klaren Chancen. Sie scheiterten aber immer wieder am Leipziger Schlussmann Peter Gulacsi, der vom Publikum frenetisch gefeiert wurde.

Harter Zweikampf in der "Red Bull Arena": Robert Lewandowski gegen Willi OrbanBild: picture-alliance/dpa/J. Woitas

Weltklassestürmer Robert Lewandowski blieb über die gesamten 120 Spielminuten glück- und wirkungslos. Bitter für den Polen: Der gerade von Heynckes von den Amateuren beförderte Kwasi Okyere Wriedt wirkte deutlich aufgeweckter und zielorientierter als die seit Jahren unangreifbare Nummer eins im Bayern-Sturm. Erkenntnis: Die Offensive ist spätestens seit den Verletzungen von Thomas Müller, Franck Ribery und James Rodriguez zur großen Baustelle der Bayern geworden.

RB kann auch seriösen Spitzenfußball

Anders die Leipziger. Nach der überstandenen kleinen Punkte- und Belastungskrise im September ihres ersten Europapokaljahres hat sich die Leichtigkeit wieder eingestellt. Taktisch und auch vom Selbstverständnis scheinen die Rasenballer dem Branchenprimus zumindest momentan überlegen. Bei ihrem ersten "Punktgewinn" gegen die Bayern, den es im Pokal natürlich nicht gibt, zeigten die Leipziger sogar eine neue Seite: Ralph Hassenhüttels junge Mannschaft kann nicht nur Hurra-Stil und Scheibenschießen, sondern auch seriösen Spitzenfußball. In der Pressekonferenz, mittlerweile war es in Leipzig schon nach Mitternacht, sagte der 50-jährige Trainer: "Ich bin unglaublich stolz auf die Mannschaft. Aber meine Spieler tun mir leid, dass es am Ende alles für die Katz war."

Führungstreffer durch Strafstoß: RB-Spieler bedanken sich bei Emil ForsbergBild: Imago/J. Huebner

Aber zurück zu den Bayern: Wohin hat sich die seit fußballerischen Ewigkeiten kultivierte "Mia san Mia"-Attitüde nur verflüchtigt? Was ist mit den Spielern, die noch vor einem knappen halben Jahr kurz mit den Muskeln zuckten, als die Leipziger am vorletzten und für die Meisterschaft längst bedeutungslosen Aufeinandertreffen frech wurden. Im Mai führten die Rasenballer zwischenzeitlich mit 4:2 und fingen an, mit ihrem schnellen Passspiel die Bayern-Akteure lächerlich zu machen, bis Lewandowski, Alaba und Robben die Kräfteverhältnisse zurecht rückten und in den Schlussminuten einen sagenhaften 5:4-Auswärtssieg feierten. Im späten Oktober gelingt es dem Rekordmeister- und Pokalsieger nicht, einen über eine Stunde in Unterzahl spielenden Gegner spielerisch in die Knie zu zwingen.

"Es sind nur Menschen", ...

... sagt Sportpsychologe Dr. René Paasch dazu. Und Leistungsfaktoren wie das Selbstvertrauen gehören selbst bei Weltmeistern und internationalen Topspielern nicht zum Garantieumfang. Paasch, der als Nachwuchstrainer und Sportpsychologe beim VfL Bochum arbeitet, hat am Mittwochabend eine Mannschaft gesehen, die ihre eigene Stärke nicht mehr unbedingt abrufen kann. "Es geht um die innere Überzeugung in die Fähigkeiten als Spieler oder Team, Handlungen erfolgreich durchzuführen. Nimmt diese Überzeugung Schaden, braucht es, dies wieder aufzubauen."

Elfmeterschießen gewonnen! Die Bayern können auch in Leipzig jubelnBild: Getty Images/Bongarts/A. Hassenstein

Es fehlt die Selbstverständlichkeit. Insofern war der Erfolg im Elfmeterschießen in Leipzig für die suchenden Bayern nur bedingt ein Schritt nach vorn. Der erfahrene Bayern-Coach Heynckes sieht das anders, zumindest verkaufte er es so in der Pressekonferenz: "Das war erstklassiger Fußball von beiden Mannschaften. Wir haben uns eine Fülle an Torchancen erspielt. Da wir diese aber nicht verwerten konnten, mussten wir bis ins Elfmeterschießen." Mit seiner tamponierten Nase, die er sich nach einem zu beherzten Schneuzer zugezogen hat, wirkt er für seine Mannschaft in jedem Fall als Vorbild. Schon am Samstag steht ihm und seinen Bayern-Spielern der nächste Härtetest bevor: In der Allianz Arena begrüßen die Münchener dann pikanterweise die Geschlagenen vom Mittwochabend, die sich nach der ersten Enttäuschung ein kleines bisschen als Sieger fühlen dürfen.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen