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PolitikEuropa

"Die Natoisierung Europas"

Barbara Wesel Madrid
29. Juni 2022

Die NATO bietet Russland die Stirn: Als Reaktion auf den russischen Krieg in der Ukraine will das Bündnis seine Kampfkraft massiv erhöhen und hat ein neues Konzept beschlossen. Putin bekomme jetzt mehr NATO, hieß es.

Spanien Nato-Gipfel Madrid
Die NATO in Madrid vereint gegen PutinBild: Bernd von Jutrczenka/dpa/picture alliance

Der Weg ist frei für die Aufnahme zwei neuer NATO-Mitglieder noch im Laufe des Jahres. Die Türkei hatte zuvor ihr Veto aufgehoben und die Regierungschefs in Madrid haben daraufhin die Einladung an Finnland und Schweden formell ausgesprochen. Schwedens Ministerpräsidentin Magdalena Andersson sprach von einem Sicherheitsgewinn für ihr Land wie für die NATO. US-Präsident Joe Biden äußerte sich mit Blick auf die lange Neutralität des russischen Nachbarlandes Finnland und sagte: Putin wolle eine Finnlandisierung Europas, er bekomme stattdessen "eine Natoisierung Europas". Und er bekommt eine deutlich verstärkte Truppenpräsenz seitens der USA und erhöhte Einsatzbereitschaft durch die europäischen NATO-Partner.

Vom strategischen Partner zur Bedrohung

Die Sprache im neuen strategischen Konzept der NATO ist deutlich: War in der letzten Fassung von 2010 noch vom Streben nach einer strategischen Partnerschaft mit Russland die Rede, heißt es jetzt: "Russland ist die bedeutendste und direkteste Bedrohung der Sicherheit für die Allianz sowie Frieden und Sicherheit im Euro-Atlantischen Raum." Daraus leitet sich eine politische und militärische Neuorientierung ab - vor allem für die Mitgliedsländer, die in den letzten Jahrzehnten auf ein partnerschaftliches Verhältnis mit Russland gesetzt hatten.

Präsident Joe Biden besuchte im März US-Truppen in Polen - jetzt soll dort ein permanentes Hauptquartier eingerichtet werden Bild: Brendan Smialowski/Getty Images/AFP

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg erklärte dazu: "Putins Krieg hat die größte Sicherheitskrise seit dem Zweiten Weltkrieg geschaffen." Das führe zu einer fundamentalen Veränderung darin, wie sich die NATO zu Abschreckung und Verteidigung aufstellt: "Wir werden unsere Kampfverbände an der östlichen Flanke verstärken, unsere schnellen Eingreifkräfte auf 300.000 erhöhen, mehr Ausrüstung in Position bringen und mehr Kommandozentren." 

Die Umsetzung dieser Ankündigungen muss allerdings in den Einzelheiten noch ausgearbeitet werden. Eine siebenfache Erhöhung der einsatzbereiten NATO-Truppen - insbesondere zur Verteidigung der östlichen Flanke - bedeutet eine dramatische Erhöhung der nationalen Beiträge. Präsident Joe Biden hat in dem Zusammenhang eine deutliche Verstärkung der US-Präsenz in Europa verkündet: Neben zwei weiteren Zerstörern in Spanien soll ein ständiges Hauptquartier in Polen eingerichtet sowie eine Kampftruppen-Brigade von insgesamt 5000 Soldaten in Rumänien stationiert werden. Die Präsenz von US-Truppen im Baltikum werde erhöht, zusätzliche F35 Kampfflugzeuge nach Großbritannien verlegt sowie die Luftabwehr und weitere Fähigkeiten in Deutschland und Italien verstärkt.

Präsident Selenskyj nahm virtuell an einem Teil des NATO-Treffens teil - es gilt für ihn als zu gefährlich, die Ukraine zu verlassen Bild: UKRAINIAN PRESIDENTIAL PRESS SERVICE/REUTERS

"Wir beweisen, dass die NATO mehr gebraucht wird als jemals zuvor", fasste Joe Biden zusammen. Damit stellt sich der US-Präsident in direkten Gegensatz zu seinem Amtsvorgänger Donald Trump, der beim NATO-Gipfel 2018 in Brüssel noch damit gedroht hatte, das Bündnis zu verlassen. Damals hatte er seine Kritik daran festgemacht, dass viele NATO-Partner nicht die zugesagten zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für Verteidigung ausgeben wollten. Heute gelten die zwei Prozent als Minimum für Rüstungsausgaben. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz verspricht, die Ziele einzuhalten und die unterfinanzierte Bundeswehr einsatzfähig zu machen.

Unterstützung "so lange es dauert"

Die NATO sei sich einig darin, die Ukraine zu unterstützen "so lange es dauert", versprach Jens Stoltenberg. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte an die Teilnehmer des Gipfels eine Videobotschaft gesandt. Darin bat er um mehr Hilfe und Waffenlieferungen. Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte dazu, weitere Ausrüstung und Waffen würden unmittelbar von Deutschland, den Niederlanden und Norwegen geschickt.

NATO-Diplomaten erklärten zur Stimmungslage in Madrid, die Mitgliedsländer hätten bei diesem Gipfel echte Entschlossenheit, die Partnerschaft mit der Ukraine langfristig fortzusetzen, gezeigt. Man wolle sie in ihrem Kampf unterstützen. Niemand solle an diesem Engagement zweifeln, weder die Regierung oder Bürger der Ukraine noch die anderen Partner.

Russland setzt während des NATO-Gipfels das Bombardement von Zielen im Osten der Ukraine intensiv fort Bild: CCTV/Instagram @zelenskiy_official/REUTERS

Ausdruck dieser Unterstützung soll ein neues Hilfspaket für die Ukraine sein, das die NATO-Mitglieder beim Gipfel beschließen und das unabhängig von den bilateralen Waffenlieferungen ist. Darin enthalten ist etwa die Lieferung von Treibstoff, von Schutzausrüstung, medizinischen Gütern, Erste-Hilfe-Paketen und vielem mehr. Darüber hinaus soll die Ukraine bei der militärischen Ausrüstung vom alten russischen schrittweise auf modernes NATO-Niveau gebracht werden. Und schließlich hoffe man, von den Erfahrungen der Ukraine im Kampf mit Russland lernen zu können, um die westliche Rüstungsindustrie dementsprechend zu reformieren.

Die Prüfung für die Einigkeit der Nato kommt noch

Christoph Heusgen, der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, sieht im neuen strategischen Konzept der NATO eine notwendige Anpassung an die Realität. "Russland ist jetzt unser Feind, ein Land das internationales Recht bricht, Kriegsverbrechen begeht - und die NATO muss darauf antworten", sagte Heusgen im Interview mit der DW. Bei den Waffenlieferungen will er nicht vergangene Fehler analysieren, sondern auf die Gegenwart reagieren: Die Ukraine befinde sich jetzt in der Defensive. "Wir müssen mehr tun. Wir sollten ihnen die modernen Panzer geben, die bei der Industrie bereit stehen und die wir ihr liefern sollten", so Heusgen.

Christoph Heusgen ist der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz - hier ein Bild vom Februar 2022Bild: Ina Fassbender/AFP/Getty Images

Die eigentliche Prüfung für die in Madrid vielfach beschworene Einigkeit der NATO gegenüber der russischen Bedrohung aber komme noch. "Putin ist ein Diktator, und wir müssen uns ihm entgegenstellen. Er glaubt, wir könnten das nicht, dass unsere Gesellschaften dekadent seien und nicht bereit seien, einen Preis für die Freiheit der Ukraine zu zahlen." Der Westen aber müsse verstehen, dass es hier auch um die eigene Freiheit gehe. Heusgen hält es für eine Frage der politischen Führung, den Bürgern die Situation zu erklären, auch wenn das Gas ausgeht. Und er ist optimistisch, dass sie bereit sein werden, die nötigen Opfer zu bringen.

Am Rande des Gipfels hatten in Madrid die Klitschko-Brüder aus Kiew die Position ihres Landes vertreten. Auf Fragen von Journalisten sagte Wladimir Klitschko: "Irrt euch nicht, Putin wird euch als nächste aufs Korn nehmen." 

Sieht Christoph Heusgen einen Grund für die NATO-Mitglieder, sich zu fürchten? Putin habe jeden Vertrag und jede internationale Vereinbarung gebrochen, so der Diplomat: "Wir müssen erkennen, dass Putin keine Skrupel kennt. Und deshalb sollten wir uns Sorgen machen. Aber wir sehen die Veränderungen bei der Verteidigung, bei der Energie und wir müssen diese Bewegung fortsetzen und zeigen, dass wir die nötige Resilienz haben."

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