Die neue türkische Freiheit
10. Dezember 2004Ich weiß nicht, wer von uns beiden mehr gerührt war, mein Freund Ciwan Haco oder ich selbst: als ich dem syrisch-kurdischen Rock-Musiker davon berichtete, dass bei der Eröffnung einer Schule im Südosten der Türkei seine Lieder gespielt wurden, war er gerade dabei, eine Türkei-Tournee vorzubereiten.
Bei einem Gespräch in Berlin hatten wir einmal darüber geredet, wann seine Fans in der Türkei seine Lieder endlich live und legal hören können würden. Seitdem ist gerade einmal ein Jahr vergangen. In der Zwischenzeit aber hat die Türkei das umfangreichste Demokratisierungsprojekt seit Gründung der Republik in Angriff genommen. Auch Leyla Zana (Anmerkung der Red.: kurdische Politikerin und Menschenrechtsaktivistin) und ihre Abgeordnetenkollegen sind nach zehn geraubten Lebensjahren endlich aus dem Gefängnis entlassen. Endlich werden Kurdisch-Sprachkurse auch in der Türkei angeboten, endlich gibt es Medien-Angebote in Sprachen, die bis vor kurzem offiziell gar nicht existieren durften.
Über 30.000 Tote Kurden und Türken, Soldaten und Guerillas, zerstörte Dörfer, abgebrannte Wälder und vor allem viele Hinterbliebene und Kriegsrückkehrer, die mit ihren Traumata alleine gelassen werden -
Oft frage ich mich, wie anders die Geschichte der Türkei verlaufen wäre, wenn die Militärs 1971 nicht geputscht hätten. Was wäre aus dem Land geworden, wenn 1980 Kenan Evren und seine Generäle nicht die klügsten Köpfe des Landes ins Gefängnis gesteckt hätten und in den Folterkellern von Diyarbakir künftige Terroristen herangezogen hätten?
Vielleicht ist es die Rache der Geschichte, dass die Evrens, Karakullukcus, Cölasans und Inces (nationalistische Journalisten) es heute aushalten müssen, dass Chiwan Haco vor 100.000 begeisterten Fans auftreten kann. Auch dank der EU können es die rückwärtsgewandten Kräfte nicht mehr verhindern, dass mein türkisch-armenischer Freund Hrant Dink mittlerweile einen Reisepass besitzt. Dank dieses Fortschritts kann der große Novellist Orhan Pamuk seine Bestseller ohne vorherige Konsultation eines Anwalts schreiben. Die Tür zur Demokratie ist offen und kein Uniformträger, kein Hetzer mit Stift in der Hand und kein Bürokrat bekommt sie mehr zu."
Cem Özdemir ist Abgeordneter der Grünen im Europaparlament