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Die neue Welt(un)ordnung

8. Juli 2019

Ist die Welt in ein „großes strategisches Puzzle“ zerfallen, wie Wolfgang Ischinger, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, formuliert? Und wer könnte dieses Puzzle wieder zusammensetzen?

Artikelbild weltzeit 3-2019 | Die neue Welt(un)ordnung
Bild: roxx0r - stock.adobe.com

Vielleicht leben wir ja im Zeitalter der Ratlosigkeit. Dabei hatte alles so schön begonnen: Mit dem Fall der Berliner Mauer endete die Blockkonfrontation; der Zusammenbruch der kommunistischen Staatenwelt 1989/90 markierte eine Zäsur von epochaler Bedeutung. Doch das, was seitdem geschieht, lässt sich analytisch kaum noch auf den Begriff bringen; es fehlen buchstäblich die Worte, um die neue Welt(un)ordnung zu beschreiben. Zu viel ist in Bewegung geraten: Gewissheiten, Allianzen, Machtstrukturen. 

Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs schien das rechtsstaatlich-demokratische Staatsmodell gesiegt zu haben. Der Westen war dabei, sich überall dort durchzusetzen, wo bis vor Kurzem noch anti-freiheitliche Systeme ihre Bürger drangsaliert hatten. Um ein Bild aus der Kybernetik zu verwenden: Die Macht, die den alten Machthabern entglitten war, suchte sich neue Träger. Die Macht schien sich bei den Siegern der Geschichte anzulagern. Überhaupt Geschichte – die war nun wirklich von gestern. Der amerikanische Politologe Francis Fukuyama postulierte ebenso großspurig wie voreilig das „Ende der Geschichte“.

China beendet Siegeszug der Demokratie 
 
Doch diese These ging fehl. Im Rückblick wirkt die gewaltsame Niederschlagung der Demokratiebewegung in China wie ein Fanal. Die Welt entwickelte sich nicht so, wie es die westlichen Handbücher des staatspolitischen Handwerks vorgesehen hatten. China, das den Siegeszug der Demokratie so jäh wie brutal beendet hatte, zeigt der Welt seitdem, dass wirtschaftlicher Erfolg, Wohlstand und Entwicklung nicht unbedingt mit dem Vorhandensein politscher Freiheiten einhergehen müssen. In vielen Zukunftstechnologien ist China schon jetzt führend.
 
Mit dem Aufbau wirtschaftlicher Macht und dem Anhäufen gigantischer Währungsreserven wächst China aber auch immer mehr politische Macht zu. Peking nutzt diese Macht zunehmend und fordert damit die USA heraus. Die beiden Großmächte liefern sich einen veritablen Machtkampf um die geopolitische Vormachtstellung am Pazifik. Diese Rivalität wird eine gravierende Verschiebung im Machtgefüge der Welt nach sich ziehen.

„Eine Macht im Niedergang kann mindestens so viel Unruhe stiften wie eine aufstrebende.“
 
Ein dritter Akteur mischt im Bunde der neuen-alten Rivalen mit: „Russland zeigt gerade, dass eine Macht im Niedergang mindestens genauso viel Unruhe stiften kann wie eine aufstrebende Macht“, meint der ehemalige US-Diplomat William S. Burns. Die Menschen in der Ukraine und in Georgien werden diese Sicht teilen. Doch Russland „boxt über seiner Gewichtsklasse, während es versucht, die Spaltungen im Westen für sich auszunutzen“, so Burns weiter.

Macht in der „harten“ Außenpolitik kann gestalten und Neues schaffen; sie kann aber auch nur um den Erhalt ihrer selbst willen verwendet werden. Doch wenn militärisch unterfütterte Macht sich neu ausrichtet, kann sie leicht zerstörerisch wirken. Dieser Befund wird nicht besser, wenn zu den „großen Drei“ – USA, China, Russland – eine Vielzahl leidlich großer, politisch übermotivierter Staaten hinzukommt: Indien, Pakistan, die Türkei, Saudi-Arabien, Iran – die Aufzählung ist nicht vollständig. Nicht nur die neuen ambitionierten Player orientieren sich und ihre Außenpolitik gern an Denkfiguren des 19. Jahrhunderts – an Nullsummenspiel und Geopolitik, an Einflusszonen und am Konzert der Mächte.

Rechts- und linkspopulistische Führergestalten

Gerade in Europa erleben viele diese Rückkehr überkommener Konzepte als eine Zeitreise voller Misstöne. Sie wird begünstigt durch den Umstand, dass in immer mehr Ländern rechts- und linkspopulistische Führergestalten an die Macht kommen. Die Orbans und die Erdogans, die Dutertes und die Bolsonaros verachten das, was die westlich-liberale Ordnung immer ausgezeichnet hatte; ihr Siegeszug ist ein Verrat an den Ideen und Idealen von 1989/90. 

Wolfgang Ischinger, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, spricht davon, dass die Welt in ein „großes strategisches Puzzle“ zerfallen sei. Wer die Einzelteile aufheben und wieder zusammensetzten könne – das sei derzeit unklar. Jedenfalls stehen die USA, die langjährige Vormacht des Westens, unter ihrem gegenwärtigen Präsidenten dafür offenkundig nicht zur Verfügung. Donald Trump wendet sich von Europa ab, er stellt die NATO infrage und beschimpft Verbündete. Gleichzeitig hofiert er Diktatoren und autoritäre Populisten. Auch das ist eine Verschiebung im Machtgefüge der Welt, für Europäer ist es die vielleicht schmerzhafteste.

„Es ist eine Zeit dramatischer Neuverteilung globaler Macht.“
 
Denn trotz aller Ambitionen, den alten Kontinent politisch zu einen, ihn wirtschaftlich und sozial zu integrieren: Die EU ist derzeit nicht in der besten Verfassung: Der Brexit schwächt sie, Populisten im Osten höhlen sie aus, Putins Russland bedroht sie. Das 20. Jahrhundert als Zeitalter der Kriege und der ideologischen Rivalitäten dauerte streng genommen nur von 1914 bis 1989. Historiker bezeichnen diese Zeitspanne deshalb als „kurzes Jahrhundert“. Für das Vierteljahrhundert, das seitdem vergangen ist, hat noch niemand ein passendes Etikett gefunden. Bei aller Ratlosigkeit ist immerhin klar: Es ist eine Zeit dramatischer Neuverteilung globaler Macht.

Dieser Beitrag stammt aus dem gedruckten DW-Magazin Weltzeit 3 | 2019 – Im Zeitalter der MachtverschiebungenBild: DW/R. Oberhammer
Christian F. Trippe, Redakteur und DW-SicherheitsexperteBild: DW/B. Geilert
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