Die Piratenpartei entert Berlin
18. September 2011Die Berliner Piratenpartei ist der derzeit wohl erfolgreichste Verband in einem deutschen Bundesland. Bei der Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses am Sonntag (18.09.2011) kamen die Piraten deutlich über die Fünf-Prozent-Hürde. Damit können sie erstmals Abgeordnete in ein Landesparlament in Deutschland entsenden.
Ihr Spitzenkandidat in Berlin heißt Andreas Baum. Er ist 33 Jahre alt, ausgesprochen smart, gelernter Industrieelektroniker. Wenige Tage vor der Wahl sieht man ihm, der derzeit von Termin zu Termin hetzt, an, dass der Hype um die Piraten auch anstrengend ist. Im Gespräch wird deutlich, dass die Piraten keine Ein-Themen-Partei sein möchten, sondern anspruchsvolle Ziele haben. "Wir möchten Politik anders organisieren", sagt Baum. "Wir möchten dafür sorgen, dass sich die Politikarbeit der Zeit anpasst, die modernen Kommunikationsmittel und ihre Chancen auch nutzt." Das sei die erste Ebene, auf der die Piraten etwas verändern wollen. Die zweite Ebene sei natürlich die inhaltliche Seite.
Ein anderer Pirat ist Christoph Lauer. Er ist 27 Jahre jung, studiert Kultur und Technik an der Technischen Universität Berlin und arbeitet parallel zum Studium als Produktmanager in einem Internet-Startup. Er formuliert für die inhaltliche Ausrichtung sogar einen theoretischen Überbau, der in abgewandelter Form auch in Gesprächen mit anderen Piraten immer wieder herangezogen wird. "Was wir im Moment erleben ist, dass das Internet auf eine brutale Weise die Paradigmen des 19. und 20. Jahrhunderts zerkloppt - was Arbeit, Besitz und Wissen betrifft." Die etablierten Parteien würde, so Lauer, darauf unzureichend reagieren, nämlich mit überholten Konzepten aus vergangenen Zeiten.
Was kommt nach dem Hype?
Der Parteienforscher Karl-Rudolf Korte sieht für die Piraten gute Chancen, über den derzeitigen Hype hinaus einen Platz in der deutschen Parteienlandschaft zu finden. "Die Piraten bilden einen gesellschaftlichen Grundkonflikt ab, nämlich zwischen Freiheit und Sicherheit im Internet zu entscheiden." Damit hätten sie gute Chancen, als Partei - oder "Problemlösungsagentur" wie Korte auch sagt - langfristig erfolgreich zu sein. Allerdings könnten die Piraten auch in einer Erfolgsfalle tappen. "Wenn nämlich die anderen Parteien ihre Themen kopieren und Wähler wieder abwandern."
Der Politologe Oskar Niedermayer meint dazu: "Die haben einen Themenbereich, der ihnen erlauben wird, eine Stammwählerschaft aufzubauen." Derzeit würden die Piraten Stimmen von allen anderen Parteien wegnehmen, besonders aber viele Erstwähler überzeugen.
Forderung nach zeitgemäßer Netzpolitik
Die Piratenpartei in Deutschland ist eine junge Partei. Sie wurde vor ziemlich genau fünf Jahren gegründet. Derzeit gibt es bundesweit rund 13.000 Mitglieder. Den bisher größten Zulauf erlebten die Piraten 2009 im Zuge der politischen Diskussion um die Sperrung kinderpornografischer Internetangebote. Viele sahen darin den Versuch einer Zensur des Internets und damit einen drohenden Dammbruch. Ähnlich wie bei der ersten Piratenpartei in Schweden war also ein Internetkonflikt die Initialzündung für eine breite Resonanz der neuen Partei. In Schweden kämpften die Piraten im Jahr 2006 darum, dass nicht alle, die sich Musik und Filme über "Piratebay" - daher auch der Name Piraten-Partei - und andere Tauschbörsen herunterladen, kriminalisiert werden. Nicht Besitz, sondern Zugang sei das neue Paradigma, sagen die Piraten weltweit.
Dazu kommt in Deutschland ein Problem der etablierten Parteien. Seit Jahren schon gibt es eine Kluft zwischen der Netzpolitik etablierter Parteien und den Vorstellungen der sogenannten Digital Natives, also jenen jungen Männern und Frauen, die mit dem Internet groß geworden sind. Auch darin sieht der Politologe einen Grund für die hohe Zustimmung der Piratenpartei bei vor allem jungen Wählern. Es gebe in den etablierten Parteien zwar durchaus Leute, die mit dem Netz umgehen können, sagt Niedermayer. "Aber es ist auch richtig, dass in den Parteien viele sind, die versuchen, sich dieses Mediums zu bedienen aber es noch nicht wirklich beherrschen."
Auch Pirat Christoph Lauer spricht von einer "großen Prise Unkenntnis bei den Etablierten" und formuliert daraus den Anspruch, es besser zu können: "Wir sind einfach näher dran an der Materie." Und ganz generell sei es in Deutschland an der Zeit für eine neue Partei: "Hier macht sich eine neue Generation von Leuten auf den Weg, um das politische System zu verändern. Das ist meiner Meinung nach ein ganz natürlicher Prozess, der sich alle 20, 30 Jahre wiederholt."
Neue Bürgerpartei?
Eine zentrale Forderung der Piratenpartei ist die nach einer transparenteren Politik. Die Bürger sollen mitbestimmen können und zwar - wie Andreas Baum sagt - "irgendwie anders als bisher und unterstützt durch neue Tools im Internet". Oftmals würde Bürgerbeteilung nicht viel bringen und eher noch frustrieren, zum Beispiel wenn sich viele beteiligen, einen Mehrheitsentscheid bilden, dann aber an höherer Stelle doch wieder anders entschieden werde, sagt Spitzenkandidat Baum. Sein Kollege Christoph Lauer geht sogar so weit zu sagen, dass Wutbürger und Straßenproteste verpuffte Energien seien. "Diese Energien der Bürger müssen konstruktiver genutzt werden."
Zudem seien junge Menschen durch das Internet gewohnt, relativ schnell eine Antwort auf ihre Fragen zu bekommen, sagt Lauer. In der Politik fehle dieser Rückkanal. Politik sei eine Blackbox, die irgendwie funktioniere, aber viele unzufrieden mache. Damit erklärt auch Professor Korte den beachtlichen Wählerzulauf. Neben vielen Unentschlossenen, die sich durch das Neue angezogen fühlten, würden die Piraten vor allem von Protestwählern gewählt. "Sie artikulieren Protest, indem sie einer Partei die Stimme geben, die eben nicht etabliert daherkommt, sondern frech, weniger bürgerlich und nicht ideologisch vorbelastet."
Sozial-liberale Ausrichtung
Ganz groß auf ihre orange-schwarzen Fahnen geschrieben haben sich die Piraten auch den Begriff informationelle Selbstbestimmung. "Was passiert mit den Daten, die einen engen Bezug zu mir haben, beziehungsweise, wie kann ich bestimmen, was von mir in der Datenwelt sichtbar wird?", erklärt Spitzenkandidat Andreas Baum. Anders als manche Netz-Utopisten betonen die Piraten also sowohl die Chancen, als auch die Gefahren des Internets.
Auf ihren Platz im deutschen Parteienspektrum angesprochen, sagt Andreas Baum, dass sie sich als "sozial-liberal" verstünden. Aber das sei nur eine ungefähre Einordnung, ihnen fehle schließlich die Tradition. Das klassische Rechts-Links-Schema sei aber nicht mehr zeitgemäß.
Im Berliner Wahlkampf hatten sich die Piraten auch als soziale Partei präsentiert. Sie fordern Zugang zu Bildung, Wissen und Teilnahme am öffentlichen Leben in der Stadt - und zwar für alle, unabhängig vom Geldbeutel. U-Bahn-Fahren soll kostenlos sein, ebenso wie der Zugang ins Internet über ein stadtweites W-Lan-Netz. Die Grundidee des Internets, der freie Fluss von Information, soll also auf das reale Stadtleben übertragen werden.
Nach ihrer Wahl ins Abgeordnetenhaus werden die Piraten nun ihr Können unter Beweis stellen müssen. Bundesweit ist die Piratenpartei auf kommunaler Ebene bereits in einigen Stadtparlamenten vertreten. Bei den jüngsten Kommunalwahlen am 11. September in Niedersachsen zum Beispiel erreichten Mitglieder der Piratenpartei 59 Mandate.
Seit 2009 gibt es auch im Stadtparlament von Münster einen Abgeordneten der Piratenpartei. Hier hätten die Piraten ihre Feuertaufe gut bestanden, erzählt der Berliner Pirat Hartmut Simken. Der Kollege dort hätte die chaotische Haushaltsplanung kurzer Hand neu organisiert, in dem er aus zu vielen Tabellen eine große Excel-Datei erstellt und diese dann über Google-Docs einfacher zugänglich gemacht hätte. Dafür seien ihm die Abgeordneten sehr dankbar gewesen.
Autor: Kay-Alexander Scholz
Redaktion: Sabine Kinkartz, Hartmut Lüning