Die Folgen eines Grexits
24. Juli 2012Notfallpläne wurden hinter verschlossenen Türen gestrickt, Szenarien durchspielt und viel gemunkelt - doch laut aussprechen, das mochte bislang keiner. Einen Austritt Griechenlands aus der Eurozone, einen Grexit, dachte man nach den Neuwahlen im Juni abgewehrt zu haben. Doch dieses Szenario ist nicht abgehakt. Im Gegenteil: Die Geduld der Geldgeber hängt am seidenen Faden, und dieser droht zu reißen - denn die Griechen machen einfach keine Fortschritte bei der Privatisierung und der Reform des riesigen Staatsapparats. Ein Austritt Griechenlands wird immer wahrscheinlicher und entsprechend offen äußern sich Politiker dazu - über die wirtschaftlichen Konsequenzen sprechen sie jedoch kaum.
Eine juristische Regelung, wonach ein Land den Euroraum verlassen kann, gibt es nicht. Die Euro-Geburtshelfer wollten den Währungsclub als eine führende Wirtschaftsregion neben Asien und Amerika etablieren. Paragraphen, die regeln, wie man Fußkranken und Lahmen hilft, hatten im Vertragswerk von Lissabon keinen Platz.
Gedachte Sekunde
Doch Juristen sind findig. Sie schlagen vor, Griechenland könne für eine gedachte Sekunde aus der Europäischen Union austreten, aus dem Währungsclub ausscheiden und sofort wieder in die EU eintreten. Von dieser Sekunde an wäre alles auf Null gestellt, und sämtliche Gläubiger blieben auf ihren Forderungen sitzen.
Nach aktuellen Schätzungen säße Deutschland dann auf einem Berg von Forderungen in Höhe von 80 Milliarden Euro. Darin enthalten sind der Anteil der Deutschen zu den Hilfspaketen und die Verluste durch die sogenannten Targetsalden im Eurosystem. Target 2 ist ein Zahlungsverkehrssystem der Europäischen Zentralbank, wonach Gelder zwischen den beteiligten Notenbanken fließen und somit Verbindlichkeiten und Forderungen gegenüber der EZB entstehen.
Die Target-Verbindlichkeiten Griechenlands werden auf 100 Milliarden Euro beziffert, die die Bundesbank und die EZB abschreiben müssten. Wertlos dürften auch die griechischen Staatsanleihen in Höhe von rund 55 Milliarden Euro sein, welche die EZB gekauft hatte.
Halb so schlimm?
Alles in allem aber halb so schlimm, sagen Experten: "Die gesamten Schulden Griechenlands, sowohl die des Staates als auch die der Privathaushalte, betragen nur etwa vier bis fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes der Eurozone", sagt Christian Schulz von der Berenberg Bank zur DW. Das würde bedeuten, dass im allerschlimmsten Fall die Schulden der Eurozone von momentan 88 Prozent auf etwas über 90 Prozent steigen würden, so der Experte, und fügt hinzu: "Das würde keinen so großen Effekt auf die Refinanzierungskosten der Europäer haben."
Für Deutschland seien die Ausfallrisiken bei einem Euro-Austritt Griechenlands verkraftbar, sagt auch Friedrich Heinemann vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW): "Das sind Beträge, die die Deutschen überhaupt nicht umhauen", so Heinemann im Gespräch mit der Deutschen Welle. "Viel gravierender wäre es, wenn eine Kettenreaktion in Gang gesetzt würde." Während also die direkten Kosten eines "Grexits" kalkulierbar sind, lässt sich eine Ansteckungsgefahr anderer Euro-Länder schwieriger einschätzen – daher auch die Unsicherheit und Angst.
Der erste Domino-Stein
Bei einem Grexit scheint die Vermarktungsstrategie das entscheidende Element zu sein. "Es kommt darauf an, ob Griechenlands Austritt als einzigartiger Sonderfall vermittelt werden kann", so Heinemann, oder ob der Austritt als Beginn eines Zerfallprozesses der Eurozone gedeutet werde. Letzteres sei ein gefährliches Gedankenspiel. Der Grund: Spekulationen gegen andere Länder in der Eurozone könnte das System zum Wanken bringen.
"Es ist nicht unwahrscheinlich, dass man die Spanier und möglicherweise die Italiener vor einer Marktpanik schützen muss, und Rettungspakete für diese Länder schnüren muss, die wesentlich größer sind als das für Griechenland", so der Finanzexperte Christian Schulz. "Das könnte bedeuten, dass die griechische Rettung vorbei wäre, aber dafür die spanische Rettung erst so richtig beginnen würde." Und das wäre ein viel größerer Batzen Geld als bisher geplant, meint Schulz. Das Ausfallrisiko griechischer Schulden ist also nicht das Problem, es sind die potenziellen Folgen für die anderen Wackelkandidaten, die die EU-Regierungen in Atem halten.
Am Tag danach
Auf einen Austritt sind gerade die Griechen am wenigsten vorbereitet. Den Euro-Club verlassen, das wollen sie eigentlich nicht. Nur mehr Zeit für die Reformen und einige Auflagen neu verhandeln. Die Folgen eines Austritts wären für das Land nämlich weitaus verheerender als für die Eurozone: "Es wird zu einem dramatischen Einbruch der Wirtschaft kommen, insbesondere wenn die Euros das Land verlassen, die Wirtschaft zum Stillstand kommt und eine Ersatzwährung eingeführt wird, die kaum Glaubwürdigkeit hätte und zu massiver Inflation führen würde", sagt Schulz.
Fast alles, was Griechenland durch die Abwertung der Währung an Wettbewerbsfähigkeit dazu gewinnen würde, werde durch die hohe Inflation aufgefressen, so Schulz. "Für Griechenland könnte der Weg immer weiter weg vom europäischen Kern führen, als wieder dahin zurück".
Andere Experten sind optimistischer und sehen im Austritt eine Chance für Griechenland: "Es wird zwar schwierig sein, aus dem Ausland Produkte zu importieren, aber dafür könnten in griechischen Supermärkten statt deutschem Yoghurt und holländischen Tomaten wieder griechische Produkte liegen. So wird die Binnennachfrage gestärkt", sagt der Finanzexperte und Buchautor Dirk Müller zur DW. "Ich glaube, dass Griechenland nach ein bis zwei Jahren gute Perspektiven für die wirtschaftliche Entwicklung haben wird." Auch Friedrich Heinemann vom ZEW meint, dass den Griechen eine turbulente Zeit bevorstehen könnte, doch nach sechs bis zwölf Monaten würde sich die Lage beruhigen.
Zerfall der Eurozone?
Der Grexit ist für viele Experten nur eine Frage der Zeit. Die Gefahr eines Zerfalls der Eurozone sehen sie aber nicht: "Die Kosten wären so hoch, dass sich Deutschland niemals drauf einlassen wird, sondern dann eher nachlegen würde in seinen Hilfsbemühungen", so der Forscher Heinemann. Das Problem sei, dass gegenüber Ländern wie Spanien die Forderungen nicht nur des Staates sondern auch von Privatunternehmen, Banken oder Lebensversicherungen sehr hoch seien. "Das ist ein derart schlimmes Szenario, dass man es nicht zulassen wird."
Dirk Müller glaubt zwar an den Erhalt der Eurozone, doch nicht in ihrer jetzigen Form: "Jeder Staat braucht die Währung, die zu seiner Leistungsfähigkeit passt, und wir haben nun mal in Europa extrem unterschiedliche Leistungsfähigkeiten in den einzelnen Staaten." Eine realistische Zukunftsperspektive wäre ein Modell einer Kern-Eurozone, meint Müller, also ein Zusammenschluss jener EU-Staaten, die wirtschaftlich gleich stark sind und ihre Systeme leicht anpassen können.
Im August soll Griechenland noch einmal finanzielle Hilfen bekommen, um der EZB eine fällige Staatsanleihe in Höhe von 3,6 Milliarden Euro auszuzahlen. Ob und wie viel Geld danach fließen wird, steht noch in den Sternen. Die Troika der Europäischen Kommission, der EZB und des IWF ist diese Woche erneut in Athen eingetroffen – ihr Zeugnis wird im Herbst erwartet. Aber schon jetzt ist davon auszugehen, dass die Griechen keine Bestnoten erhalten werden.