Die Regeln der Banlieues
11. November 2005Paris, 17. Arrondissement, rue des Dames Nummer 114: Hier residiert die Immobilienagentur Vivier Dufraisse. Im Schaufenster werden Nobelappartments in der Hauptstadt angeboten - zu entsprechenden Preisen: Über 2000 Euro Miete kostet hier eine 100-Quadratmeter-Wohnung. Aber Vivier Dufraisse hat auch anderes im Angebot: Die Agentur kümmert sich auch um ein Hochhaus in Saint-Ouen. Die Situation dort ist schon seit langem sehr schwierig. Die Bevölkerung ist arm. "Das Problem ist, viele bezahlen ihre Miete nicht. Die dort wohnen, sind nicht diejenigen, die im Mietvertrag stehen", sagt der Makler. "Wir müssen ständig Reparaturarbeiten durchführen. Aber wenn sie etwas reparieren, ist es am nächsten Tag schon wieder kaputt."
Teures Wohnen im Ghetto
Billig sind die Wohnungen in Pariser Vorstädten wie Saint-Ouen aber deswegen noch lange nicht. Für ein 25-Quadratmeter-Appartement zahlt man auch dort 450 Euro. Das ist nicht viel weniger als in Paris, die Preise sind rapide angestiegen in den Vorstädten. Leisten können sich Sozialhilfeempfänger solche Wohnungen nur, weil der Staat einen Teil der Miete übernimmt. Und, sagt Dufraisse, weil viel mehr Menschen tatsächlich in diesen Wohnungen wohnen, als dort gemeldet sind.
Saint-Ouen ist von den nächtlichen Krawallen bislang verschont geblieben. Die Stimmung ist aber auch dort explosiv, erzählt der Immobilienmakler: "Das Problem ist nicht neu. Seit 30 Jahren werden Leute in solche Wohnghettos gepfercht. Man hat sie ihrem Schicksal überlassen. Viele versuchen auch gar nicht erst, sich zu integrieren."
Dufraisse kennt die Vorurteile gegenüber Jugendlichen aus den Cités, den Vorstadtghettos. Er versucht daher selber, einigen von ihnen eine Chance zu geben: Er hat einen Auszubildenden aus Nordafrika. "Wir haben ihn genommen, weil er ein gutes Auftreten hatte und kompetent war."
"Sehr ungesundes Klima"
Auch sein jetziger Auszubildender, Romain Journet, ist in einer Banlieue - einer Vorstadt - groß geworden. Er lebte bis zu seinem 16. Lebensjahr in einer Vorstadt von Nanterre - ebenfalls ein sozialer Brennpunkt. Dann zogen Romain und seine Eltern weg, weil sie sich dort nicht sicher fühlten. Bis dahin aber musste er sich durchbeißen. Die Cités hätten ihre eigenen Regeln, sagt der junge Mann: "Die Schule in solchen Vierteln ist zwar kein Schlachtfeld, aber man muss zusehen, dass man respektiert wird. Es gibt viel Druck, viele Konflikte, das ist ein sehr ungesundes Klima", berichtet Romain. Von geregeltem Unterricht keine Spur. "Der Lehrer brauchte allein 20 Minuten, die Schüler zur Ruhe zu bringen, und dann sind wir zehn Minuten vor Unterrichtsschluss abgehauen. Da kommt man natürlich nicht voran", erzählt er rückblickend.
Romain Journet hat es dennoch geschafft. Er hat Betriebswirtschaft studiert und gute Aussichten auf einen Arbeitsplatz. Doch vielleicht, sagt er nachdenklich, seien seine Ausgangschancen einfach auch deutlich besser gewesen als diejenigen vieler Immigranten-Kinder in den tristen Cités. "Ich bin Franzose, ich bin ein Weißer. Dann ist es vielleicht einfacher als für einen Jungen maghrebinischer Herkunft."