Die Ruhe vor dem nächsten Boris-Sturm
30. August 2019Boris Johnson hat alles so richtig durcheinander gewirbelt: Seine Ankündigung, das Parlament für einige Wochen in den Zwangsurlaub zu schicken, ist immer noch "talk of the town" in London. Aber während es in den vergangenen Tagen spontane Proteste gab, am Mittwochabend Protestierende mit dem Schlachtruf "Stop The Coup" gar Barrieren durchbrachen und den Platz vor dem Parlament stürmten, agieren seine Gegner nun vorwiegend hinter den Kulissen.
Viel Zeit haben sie nicht. Die nächste Woche wird entscheidend sein - dann tritt das britische Parlament nach der Sommerpause erstmals wieder zusammen, und bis dahin muss es einen Plan geben. Die Mehrheit der Parlamentarier ist dagegen, die EU ohne irgendein Abkommen zu verlassen. Und mehr und mehr Abgeordnete wollen Boris Johnson zwingen, diese Möglichkeit auszuschließen. Ein Machtkampf zwischen Regierung und Parlament, in dem die Abgeordneten nun unter Druck geraten - dadurch, dass Johnson ihnen die Zeit nimmt, sich auf ein gemeinsames Vorgehen zu einigen.
Er sei nervös, gibt der Labour-Politiker und Vorsitzende des Brexit-Ausschusses Hilary Benn zu. Gerade erst aus dem Urlaub in Schottland zurückgekehrt, ist er einer der wenigen, die nach Johnsons politischem Granatenwurf den Journalisten vor dem Parlament Rede und Antwort stehen; viele andere sind noch nicht wieder da. Noch ist nicht klar, ob sich Johnsons Gegner auf eine gemeinsame Linie einigen können. "Wir müssen einfach effektiver sein als er", sagt Benn. Aber genau das hat die Opposition bisher nicht geschafft.
Ein Gesetz aus dem Boden stampfen...
Benn hofft, das Parlament könne nächste Woche ein Gesetz aus dem Boden stampfen, das für den Fall eines ungeregelten Brexits noch einmal um Verlängerung bittet. Jeder Abgeordnete müsse in sich gehen, sich seinem Gewissen stellen, meint Benn, denn schließlich wären die Folgen verheerend: Nahrungsmittel könnten knapp werden, die Preise würden steigen, die Unsicherheit für Unternehmer kein Ende nehmen. Nur eine erneute Volksabstimmung kann laut Benn aus der Krise führen: "Die Leute haben jetzt eine Vorstellung davon, wie der Brexit aussieht. Sie sollten erneut entscheiden, ob sie das wirklich wollen."
Auch Lara Spirit von der Jugendorganisation OFOC ("Our Future Our Choice") kämpft für ein zweites Referendum. Die nächsten sechs Wochen seien entscheidend. Über den Sommer waren viele Aktivisten auf Musikfestivals; sie wollen junge Leute mobilisieren, sich im Wahlregister einzutragen - für den nicht unwahrscheinlichen Fall, dass es innerhalb der nächsten Wochen zu Neuwahlen kommt. Am Wochenende wollen Lara Spirit und ihre Freunde demonstrieren gehen, im ganzen Land rufen Anti-Brexit-Aktivisten dazu auf.
...oder doch das Volk befragen?
Die Frage, ob der Brexit erneut zur Abstimmung gestellt werden soll, spaltet das Land. Im Friseursalon "Room Thirty Two" spricht man normalerweise selten über Politik - aber seit dem Brexit-Votum ist das anders. Die Friseure Ian und Melvin, beide über fünfzig, kommen auf keinen gemeinsamen Nenner: "Wir streiten uns nicht, aber wir debattieren", sagt Melvin, ein überzeugter Brexiteer. Ian hat für den Verbleib in der EU gestimmt, er hat ein Haus in Frankreich, fühlt sich als Europäer. Während Ian hofft, dass ein zweites Referendum den Brexit doch noch stoppen kann, hält Melvin das für keine Lösung: Es sei undemokratisch, wenn die Politiker so oft abstimmen lassen, bis ihnen das Ergebnis passt. Aber bei aller Unterstützung für Johnsons Brexit-Kurs: Einfach das Parlament auszusetzen, hält auch er nicht für richtig.
Wie realistisch ist es, dass sich die Politiker über das Wochenende auf ein gemeinsames Vorgehen einigen? Sehr, meint Hugo Dixon, der stellvertretende Vorsitzende der "People´s Vote Campaign", die sich für eine erneute Abstimmung einsetzt. Mit seiner Entscheidung, das Parlament zu suspendieren, habe Boris Johnson seine Gegner geeint. Auch moderate konservative Abgeordnete seien darüber entrüstet, sie würden jetzt eher mit den gegnerischen Parteien zusammenarbeiten. Dixon hält die Chancen, den Brexit zu stoppen, für so hoch wie nie. Am Besten sollten die Abgeordneten dabei schrittweise vorgehen: Als erstes müssten sie ein Gesetz erlassen, dass die Suspendierung des Parlaments wieder rückgängig macht, und dadurch Zeit gewinnen. Im zweite Schritt sollten sie Boris Johnson dann zwingen, das Austrittsdatum zu verschieben, um ein zweites Referendum abzuhalten.
Nicht alle sind so optimistisch wie Dixon. Die Oppositionspolitiker müssten sich dringend einigen, warnt Lara Spirit von OFOC: "Die Brexit-Partei hat angekündigt, einen Nichtangriffspakt mit den Konservativen abzuschließen. Wenn die Pro-EU-Parteien das nicht auch machen, sieht es düster aus für uns." Auch Hilary Benn wirkt vorsichtiger: Er sei zwar grundsätzlich ein Optimist, sagt er, aber alles hinge davon ab, ob es gelänge, in der nächsten Woche genügend Abgeordnete zusammenzubringen.
Dabei steht fest, dass Boris Johnson voll auf Risiko spielt: Gelänge es ihm, die EU beim Gipfel Ende Oktober davon zu überzeugen, beim Austrittsabkommen neue Zugeständnisse zu machen, bliebe dem Parlament kaum etwas anderes übrig, als diesem Abkommen schlussendlich zuzustimmen, sofern die Abgeordneten sich auf keinen alternativen Plan einigen können. Sollte es dem Parlament nicht gelingen, Johnson zum Einlenken zu zwingen, und die EU bliebe am Ende standfest, dann wäre ein harter, ungeregelter Brexit nicht mehr aufzuhalten.