In Moskau wusste man erst am nächsten Tag, dass die Mauer gefallen war.
6. November 2009Als der sowjetische Botschafter in der DDR Wjatscheslaw Kotschemassow am Morgen des 9. November 1989 seinen Chef darüber informieren wollte, dass die "Genossen in der DDR" ihren Bürgern offenbar die Ausreise in die Bundesrepublik erleichtern wollten, erreichte er niemand. Er wollte Außenminister Eduard Schewardnadse, fragen, ob Moskau damit einverstanden sei oder ob er intervenieren soll. Aber in Moskau klingelte das Telefon vergeblich. Die Mitarbeiter des Außenministeriums mussten sich von den Strapazen der Feierlichkeiten des 72. Jahrestages der Sowjetunion erholen, der in den Tagen davor gebührend begangen worden war.
"Grünes Licht" für die Freunde
Die Staatsführung war nicht erreichbar. Und so kam es, dass ein Stellvertreter des Außenministers schließlich entnervt "grünes Licht" gab für die Aktion der 'Ost-Berliner Freunde', wie die Russen die Ostdeutschen nannten.
Am Abend folgte sie Sensation: Der Sprecher der DDR-Regierung, Günter Schabowski, kramte während einer routinemäßigen Pressekonferenz einen Zettel hervor und las den überraschten Journalisten vor, die DDR-Führung habe ein neues Reisegesetz beschlossen. Es gelte für jeden und erlaube die "Ausreise in die BRD ohne das Vorliegen von Gründen."
Als er auf Nachfrage bekräftigte, diese Regelung gelte unmittelbar, "also sofort", läutete er nicht nur das Ende des "Ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden" ein, sondern löste einen Schockzustand in der russischen Botschaft unweit des Brandenburger Tores aus.
Geschichte verschlafen
Dort hatte man die Pressekonferenz gebannt verfolgt und war wie vor den Kopf gestoßen. Aber nicht genug der Sensationen: Denn die nächste fand in den Räumlichkeiten der Botschaft statt, als Botschafter Kotschemassow mit einer Schlaftablette versehen zu Bett ging, anstatt das Ereignis nach Moskau zu melden. Wenige Stunden später strömten Zehntausende durch das Brandenburger Tor, lagen sich mit wildfremden Westdeutschen in den Armen, weinten und stammelten immer wieder das Wort "Wahnsinn".
Nun schlug die Stunde des stellvertretenden sowjetischen Botschafters Igor Maximytschew. Er stand vor einer schwierigen Entscheidung: Sollte er den Kreml anrufen und möglicherweise eine unüberlegte Reaktion provozieren? Schließlich waren die Ereignisse auf dem "Platz des himmlischen Friedens" in Peking, wo die chinesische Führung die Proteste der Studenten mit Panzern niedergemetzelt hatte, erst wenige Monate her.
Kein Anruf aus Sorge um den Frieden
Michail Gorbatschow, der Generalsekretär der kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), hatte ein solches Szenario zwar immer ausgeschlossen, aber ein Anruf aus Berlin hätte trotzdem als ein Alarmsignal missverstanden werden können. Der sowjetische Diplomat entschied sich also, das Telefon nicht zu bedienen und hat damit - möglicherweise - den Gang der Geschichte maßgeblich beeinflusst.
Später erinnerte sich Igor Maximytschew, er habe auf den Generalsekretär gehört und die Angelegenheit nicht dramatisiert. Was mit einem Anruf zu nächtlicher Stunde hätte passieren können, das konnte man am folgenden Tag in der Zentrale des sowjetischen Geheimdienstes KGB in Berlin-Karlshorst erleben.
Ständige Telephonate
Wenige Kilometer von der innerdeutschen Grenze entfernt hatte Iwan Kusmin, der Informationschef des KGB, die Pressekonferenz von Günter Schabowski verfolgt, den Inhalt aber nicht ernst genommen. Erst gegen Mitternacht wurde er mit der Nachricht, die Mauer sei geöffnet worden, aus dem Schlaf gerissen - und schickte sofort einen Lagebericht nach Moskau.
Am nächsten Morgen brach das Chaos aus. Alle 30 Minuten klingelte das Telefon, erinnert sich Kusmin. Andauernd musste er erzählen, was in Berlin los war. Dabei war die Nervosität zum Greifen spürbar: "Wir fürchteten große Konflikte, die auch eine Einmischung der Truppen nach sich ziehen könnten. Ich glaube, man könnte es ein Wunder nennen, dass nichts passierte."
Das Wunder von Berlin
Tatsächlich ist es ein "Wunder", dass die 350.000 sowjetischen Soldaten und ihre Panzer in den Kasernen blieben und kein einziger Schuss fiel. Generalsekretär Michail Gorbatschow erfuhr am 10. November 1989, also einen Tag danach, von der Öffnung der Mauer. Sofort rief er den damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl an. Der sollte ihm versichern, dass alles friedlich bleiben würde und die Kaserne der Roten Armee sowie andere Einrichtungen der Sowjetunion unbehelligt. Gorbatschow genügte ein klares "Ja" des Kanzlers, um die Parole auszugeben, die "Sowjetunion mischt sich nicht in die inneren Angelegenheiten der DDR ein."
Autor: Matthias von Hellfeld
Redaktion: Tobias Oelmaier