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Die Schneiderinnen von Auschwitz

Manasi Gopalakrishnan
15. September 2021

Wer waren die Insassinnen, die in der Schneiderstube von Auschwitz arbeiten mussten? Historikerin Lucy Adlington hat ihre Geschichte recherchiert.

Schwarz-weiß-Porträt von Marta Fuchs, Insassin und Schneiderin im NS-Lager Auschwitz.
Marta Fuchs, Chefschneiderin in der Oberen Nähstube von Auschwitz, bewahrte andere Insassinnen vor dem TodBild: Juraj Minarik

Ich erreiche Lucy Adlington in London. Im Telefongespräch erzählt sie mir, wie sie Archivdokumente aus den 1930er- und 1940-Jahren durchforstete, um herauszufinden, wie es Frauen im Krieg erging. "Dann bin ich über einen Hinweis zu einer Schneiderei in Auschwitz gestolpert. Aber dazu gab es wenige Informationen", erklärt sie mir.

Nach diesem Zufallsfund fing sie an, weitere Hinweise zu suchen, um mehr über die damaligen Schneiderinnen herauszufinden. Im Laufe der Zeit stieß sie auf beeindruckende Geschichten, die von Widerstand und Überleben handeln. Nachzulesen sind sie in dem Buch "Die Schneiderinnen von Auschwitz. Die wahre Geschichte der Frauen, die nähten, um zu überleben", das die Autorin und Historikerin am 28. September auf Englisch veröffentlicht. 

Leben nach Auschwitz

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Die Obere Nähstube: eine "abscheuliche Anomalie"

Hedwig Höss, die Ehefrau des Auschwitz-Kommandanten, betrieb von den späten 1930er-Jahren bis in die frühen 1940er-Jahre eine Schneiderei in Auschwitz. In der "Oberen Nähstube", wie sie genannt wurde, entstand elegante Kleidung für hochrangige Nazi-Funktionäre. 

Die Historikern Lucy Adlington sieht darin eine "abscheuliche Anomalie", die in krassem Kontrast zu den Grausamkeiten stand, die die Nationalsozialisten an den 1,3 Millionen Häftlingen des Konzentrationslagers verübten.

Die Nazis seien sich der Macht der Kleidung - von Uniformen bis zu eleganterer Garderobe - immer schon bewusst gewesen, sagt Adlington. Magda Goebbels, die Ehefrau von Propagandaminister Joseph Goebbels, habe nicht davor zurückgeschreckt, auch Kreationen von Jüdinnen und Juden zu tragen. "Was für ein scheußlicher Kontrast: Während du dreckige Lumpen trägst, kommen die SS-Frauen herein und sagen: 'Liebes, mach mir ein neues Kleid'", so die Historikerin im DW-Gespräch. 

Auf ein Wort... Auschwitz

42:35

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Adlingtons Roman bringt Stein ins Rollen 

Zu Beginn ihrer Recherchen stand Adlington nur eine Liste mit Vornamen von Schneiderinnen zur Verfügung. Diese lauteten: Irene, Renee, Bracha, Hunya oder Mimi. Es sei schwierig gewesen, nicht nur die Vor- sondern auch die Nachnamen von Frauen in Aufzeichnungen zu finden, so Adlington. Viele Frauen hatten Spitznamen oder änderten ihren Namen mit der Heirat. Und manche Jüdinnen nahmen nach dem Krieg hebräische Namen an. 

2017 brachte Lucy Adlington einen Roman mit dem Titel "Das rote Band der Hoffnung" heraus, in dem sie die Geschichten dieser Jüdinnen in Fiktion verwandelte. Sie erzählt darin die Schicksale der vier jungen Frauen Rose, Ella, Marta und Carla, die, um zu überleben, in der Schneiderei von Auschwitz-Birkenau nähen mussten. 

"Ich hatte nicht genügend Informationen, daher habe ich überlegt, wie es gewesen sein könnte, als junge Frau für die Ehegattin des Auschwitz-Kommandanten zu arbeiten", sagt die Autorin. "Als der Roman dann erschienen war, kamen Menschen auf mich zu und sagten: 'Das war meine Tante, meine Mutter oder Großmutter'".Adlington hat daraufhin ein starkes Gefühl dafür entwickelt, dass "Geschichte nicht begraben ist; sie handelt vom Leben der Menschen."

Sie forschte also weiter, wollte die Schneiderinnen von Auschwitz unbedingt ausfindig machen. Dafür nahm sie Kontakt mit den Familien der Schneiderinnen von Auschwitz auf und traf 2019 in San Francisco die 98-jährige Überlebende Bracha Kohut (siehe Artikelbild).  

"Das war eine tolle Begegnung", erinnert sich Adlington. "Ich sehe sie und denke mir: Das ist dieselbe Frau, von deren Erfahrungen ich gelesen habe. Hier ist sie. Ich versuche zu verstehen, wie sie in einem so jungen Alter ein solches Trauma ertragen konnte."  

In Kontakt mit dem Widerstand

Für viele der Insassinnen war die Schneiderei eine Möglichkeit, dem Tod zu entkommen. Chefschneiderin Marta Fuchs hatte absichtlich aus ihrer damaligen Arbeitsstätte einen Zufluchtsort gemacht. "Sie wollte so viele Frauen wie möglich retten", erklärt Adlington. "Sie hatten dort saubere Kleidung. Sie hatten die Möglichkeit zu waschen. Und wie eine der Frauen sagte: Sie hatten eine bedeutsame Arbeit", so die Historikerin. 

Bracha Kohut (r.) war eine der Schneiderinnen in Auschwitz. Lucy Adlington (l.) traf sie 2019.Bild: Lucy Adlington

"Es muss ihrem Selbstwertgefühl sehr gut getan haben, etwas Schönes zu tun, während andere schlimmer als Tiere, wie Sklaven, behandelt wurden. Sie mussten keine Gaskammern errichten, in denen ihre Familienangehörige umgebracht wurden. Ein Trauma, das ihnen erspart blieb", so Adlington.

Die Frauen in der Schneiderei fertigten aber nicht nur harmlose Kleidungsstücke an. Viele von ihnen unterstützten Widerstandsbewegungen im Untergrund, indem sie ihre relativ privilegierte Position dazu nutzten, mit Menschen außerhalb des Lagers zu kommunizieren. "Sie sammelten Medikamente und verteilten sie. Sie klauten, was immer sie konnten... und ich denke das Wichtigste war, dass sie dadurch die Moral aufrecht erhielten", so Adlington. 

"Sie hatten Zugang zu Zeitungen und hörten heimlich Radio, sodass sie weitergeben konnten: 'Sieh nur, die Alliierten sind in Frankreich gelandet. Der D-Day ist gekommen, haltet durch.'"

Chefschneiderin Marta habe sich auch auf ihre Flucht vorbereitet, um der Welt von den Gräueltaten der Nazis zu erzählen, fügt die Historikerin hinzu. 

 Berliner Nazis bestellten in Auschwitz 

Diesen Seidenanzug fertigte die Überlebende Hunya Volkmann später für ihre Nichte anBild: Lucy Adlington

Adlington konnte zwar mit Bracha Kuhot und verschiedenen Familienangehörigen ehemaliger Auschwitz-Schneiderinnen sprechen. Doch es gelang ihr nicht, Zeugnisse der Kleidungsstücke aus der Auschwitz-Schneiderei zu finden. 

"Meines Wissens existieren keine Kleidungstücke von dort mehr. Es gab ein Auftragsbuch, in dem laut Zeugenbericht die Namen hochrangiger Nazis aus Berlin zu finden waren. Kundinnen und Kunden aus Berlin bestellten also ihre Kleidung in Auschwitz. Aber diese Aufzeichnungen haben nicht überlebt", bedauert Lucy Adlington im DW-Interview.

Die Überlebende Hunya Volkmann habe später einen Seidenanzug für ihre Nichte genäht, fügt sie hinzu. "Sie hat mir den Anzug zugeschickt. Nun besitze ich einen Anzug einer dieser Schneiderinnen. Jedes Mal wenn ich ihn sehe, muss ich weinen. Es ist so schön, wenn man bedenkt, welche Sklavenarbeit diese Frau namens Hunya verrichten musste, um zu überleben", sagt Adlington. "Aber dieser Anzug wurde mit Liebe genäht."

Hunya Volkmann überlebte Auschwitz und ließ sich in Berlin niederBild: Gila Kornfeld-Jacobs

Übersetzung aus dem Englischen: Bettina Baumann

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