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Politik

Die Sehnsucht nach Ordnung

Thomas Milz
30. Dezember 2018

Viele Nachfahren afrikanischer Sklaven leben noch immer in Brasiliens Armenvierteln. Doch auch dort unterstützen viele den neuen Präsidenten Bolsonaro - trotz dessen Ankündigung, hart durchzugreifen. Aus Rio Thomas Milz.

Borel, Rio de Janeiro, Brasilien
Bild: DW/Thomas Milz

"Bitte nicht fotografieren", murmelt Diego Francisco. Die Lage sei angespannt. "Weitergehen!" Zu gerne hätte ich die beiden schwer bewaffneten Polizisten fotografiert, die uns stumm auf Schritt und Tritt begleiten, seit wir die Favela Borel betreten haben. Der Journalist Diego führt mich durch das Häuser- und Hüttenmeer, in dem er aufgewachsen ist. Borel liegt in Rio de Janeiros Stadtteil Tijuca, einem traditionellen Wohnviertel der weißen Mittelklasse, die dort aber nicht mehr gerne wohnt, seit die Gewalt in den umliegenden Favelas explodiert ist.

Mit dem 1. Januar beginnt nun die Amtszeit von Präsident Jair Messias Bolsonaro, einem rechten Hardliner, der noch mehr hartes Durchgreifen der Polizei gegen die Drogenbanden in den Favelas angedroht hat. Beliebt ist er trotzdem, auch in Rios Armenvierteln, die überwiegend von Schwarzen bewohnt werden. Brasilien ist das Land mit der größten schwarzen Bevölkerung außerhalb Afrikas. Viele sind Nachfahren von Sklaven. Die Sklaverei wurde hier erst 1888 abgeschafft.

Wir gehen vorbei an improvisierten Backsteinhütten und einem Bach. "Maracana" heißt er, wie der Fußballtempel. Das bräunlich-graue Wasser muffelt, eine geregelte Kanalisation gibt es nicht. Schließlich stehen wir vor der "Assembleia de Deus". Anfang Dezember stürmten Polizisten auf der Suche nach einem Drogengangster die Kirche während eines evangelikalen Gottesdienstes. Von den Hügeln rundum nahmen Bandenmitglieder die Polizisten daraufhin unter Feuer.

Die ermordete Stadträtin

Fragt man die Nachbarn der jetzt mit Einschusslöchern übersäten Kirche, was sie von Bolsonaro halten, hört man fast nur Zustimmung. Endlich jemand, der mit harter Hand für Ordnung sorgen wird. "Auch wenn das noch mehr Aktionen der Polizei bedeutet?" Ja, auch dann.

Im März auf offener Straße erschossen: Marielle FrancoBild: DW/Thomas Milz

An einem Pfeiler klebt das halb zerfledderte Plakat mit Rios bekanntestem Gesicht, dem der schwarzen Stadträtin Marielle Franco. In der Nacht des 14. März 2018 trafen drei Kugeln Marielles Kopf, eine ihren Hals. In Rio starben schon immer schwarze Polizisten und schwarze Drogengangster. Nun starb auch eine Menschenrechtlerin, die sich für schwarze Favela-Bewohnerinnen engagierte. Mitten auf der Straße im Zentrum. 

Nein, die Bezeichnung "Erbin von Marielle" finde sie nicht so toll, sagt mir Diegos Mutter Mônica Francisco, eine evangelikale Pastorin, Menschenrechtsaktivistin und ab Januar Landtagsabgeordnete. Sie ist eine von vier schwarzen Aktivistinnen, die im Oktober überraschend ein Mandat für die Linkspartei PSOL errangen, für die auch Marielle aktiv war.

Hoffnungsträgerinnen der brasilianischen Linken

Die Wahlen waren ein Desaster für Brasiliens Linke, die das Land von 2003 bis 2016 regiert hatte. Viele Brasilianer machen sie für das Chaos im Land verantwortlich. Trotzdem zieht Mônica nun ins Landesparlament, gemeinsam mit Renata Souza, Marielles ehemaliger Bürochefin, und Dani Monteiro, Marielles Assistentin. Die Vierte im Bunde, Talíria Petrone, hat es sogar ins Abgeordnetenhaus in Brasília geschafft. 

Marielle sei eine "Companheira" gewesen, eine Mitkämpferin. "Schon 2010 habe ich, zusammen mit Marielle, in der Menschenrechtskommission den tagtäglichen Verstoß gegen die Rechte der Bewohner der Favelas angeprangert." Damals hatte die Polizei Borel besetzt, um die Drogenbanden zu vertreiben. Doch statt der versprochen Sozialprogramme für die Jugendlichen bot der Staat nur eins: pure Gewalt. Die Polizei agiere wie Besatzer, sagt Mônica. 

Mônica Francisco: Eine von vier schwarzen Aktivistinnen in Borel, die nun in die Politik gehenBild: DW/Thomas Milz

Ein Wandgraffiti erinnert daran, dass die Polizisten hier einen Jugendlichen erschossen, weil sie seine Tüte Popcorn für Drogen hielten. Auch Ausgangssperren verhängte die Polizei über Borel. Wer in Rio lebt weiß, dass es solche Drangsalierungen in den Mittelklassevierteln nicht gibt.

Sehnsucht nach Autoritäten

Vor den Wahlen im Oktober hatte sich die Pastorin Mônica gegen den Kandidaten Bolsonaro ausgesprochen. Der meine, statt mit Sozialprogrammen die Probleme mit frommen Gebeten, knallharten Wildwest-Methoden und homophoben Äußerungen beheben zu können, sagte sie. Doch der Mehrheit gefielen Bolsonaros Ideen, auch in Rios Favelas.

Rassismus gehört in Brasilien zum Alltag, sagt der Journalist Diego FranciscoBild: DW/Thomas Milz

Rio ist besonders chaotisch. Die letzten zwei Gouverneure des Teilstaates sind wegen Korruption in Haft, die Haushaltskassen leer. "Es herrscht das Gefühl, dass alles aus der Ordnung geraten ist. Jemand mit harter Hand, der unnachgiebig ist, soll nun das Leben wieder organisieren. Die Menschen erwarten das von den Autoritäten", sagt Mônica. 

Diego zeigt mir seine alte Schule. Die schwarzen Schüler stehen in Reih und Glied. "Keinen Mucks", ermahnt die Lehrerin. "Es ist noch genauso rassistisch wie damals", sagt Diego. Die Arme auf dem Rücken verschränkt, marschieren die Kids zum Mittagessen. "Niemand würde das mit Kindern aus der Mittel- und Oberschicht tun." 

Mit Drohnen gegen Drogendealer

Rios neuer Gouverneur, ein Hardliner wie Bolsonaro, will ab Januar Drohnen in die Favelas schicken, um die Drogendealer auszuschalten. 1444 Menschen wurden von Januar bis November in Rio von der Polizei getötet, ein trauriger Rekord. Keine guten Aussichten. "Der Alltag in der Favela wird militarisiert", sagt Mônica. "Es herrscht ein regelrechter Ausnahmezustand." 

Mônica hingegen will für den Bau einer Schwangerenambulanz in der Region kämpfen. Es soll ein Zeichen sein gegen Gewalt und Sterben. Ein Zeichen für ein besseres Leben.

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