1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Die Stadt, die zwei Städte ist

24. Mai 2021

In Baarle an der belgisch-niederländischen Grenze verlaufen Staatsgrenzen durch Privathäuser, Restaurants und Cafés, Museen und Galerien. Für die Bürgerinnen und Bürger das hat Vor- und Nachteile.

Belgien/Niederlande Belgisch-niederländisches Ortschild am Ortseingang von Baarle
Das niederländische (oben) und das belgische Ortschild am Ortseingang von BaarleBild: Sanja Kljajić/DW

Baarle: Wenn die eigene Toilette im Ausland liegt

02:19

This browser does not support the video element.

Rote Ziegelhäuser, Ställe mit großen Toren, gepflegte Straßen - das Städtchen Baarle sieht auf den ersten Blick nicht anders aus als die anderen Ortschaften entlang der Grenze zwischen den EU-Mitgliedsstaaten Belgien und den Niederlanden.

Aber Baarle ist besonders. Nur hier kann es passieren, dass man das Frühstück in einem Land vorbereitet - und es in einem anderen zu sich nimmt. Dass man es sich im Fernsehsessel bequem macht - und in einen Bildschirm schaut, der auf der anderen Seite einer Grenze steht. Oder gar, dass Ehepaare in einem Bett schlafen - wobei sich die Gattin in einem anderen Staat befindet als der Gatte.

Wie ist das möglich? Baarle besteht aus Teilen Belgiens und der Niederlande, die so eng miteinander verflochten sind, dass die Grenzen zwischen beiden Ländern durch verschiedenste Einrichtungen in der Ortschaft verlaufen: durch Privathäuser, Restaurants und Cafés, Museen und Galerien. Wo genau die Grenze liegt, ist überall im Ort mit weißen Kreuzen markiert - ein Markenzeichen von Baarle.

Die Geschichte dieser bizarren Geographie reicht bis ins Mittelalter zurück, als Grundstücke zwischen Adelsfamilien aufgeteilt wurden. "1198 etwa verpachtete Herzog Hendrik I. von Brabant Land in Baarle an den Herrn von Breda, aber der durfte nur diejenigen Grundstücke an sich nehmen, die nicht bebaut waren; der Herzog selbst behielt das bereits kultivierte Land", erklärte gegenüber der DW Willem van Gool, der Leiter eines lokalen Tourismusbüros.

Weltmeister der Enklaven

Nachdem Belgien 1830 seine Unabhängigkeit von den Niederlanden erklärt hatte, musste die Grenze zwischen beiden Staaten festgelegt werden. Landvermesser arbeiteten sich Schritt für Schritt von der Nordseeküste bis zur Grenze der deutschen Länder vor - aber als sie Baarle erreichten, übersprangen sie die Ortschaft einfach; die Grenzfragen dort sollten später gelöst werden.

Markenzeichen von Baarle: Den Verlauf der Staatsgrenzen markieren weiße KreuzeBild: Sanja Kljajić/DW

Zu dieser Lösung kam es 165 Jahre später: 1995 wurden zwei Gemeinden gegründet - Baarle Hertog in Belgien und Baarle Nassau in den Niederlanden. Dazu gehören insgesamt 30 Enklaven - 22 belgische in den Niederlanden, 7 niederländische in diesen belgischen Enklaven und eine niederländische Enklave in Belgien. "Angesichts der Tatsache, dass es weltweit insgesamt nur etwa 60 Enklaven gibt, können wir sagen, dass wir in Baarle bei der Anzahl Weltmeister sind", sagt Willem van Gool.

Haustür definiert Staatsangehörigkeit

Mit der Festlegung der Staatsgrenzen wurde die Situation in Baarle jedoch nicht einfacher. Im Gegenteil: nun waren Straßen, Parks, Parkplätze, Geschäfte, Galerien und sogar Häuser teilweise belgisch - und teilweise niederländisch. Um ständige Streitigkeiten zu vermeiden, wurde vereinbart: Wo die Tür ist, definiert die Staatsbürgerschaft der Bewohner:innen eines Hauses.

Auch durch diese Tür verläuft die belgisch-niederländische Grenze in BaarleBild: Sanja Kljajić

Das hat einigen Baarler:innen einige Kopfschmerzen verursacht. 1995 klopften bei einer Dame, die 68 Jahre als Bürgerin Belgiens in der Ortschaft gewohnt hatte, plötzlich niederländische Beamte: "Ihre Haustür befindet sich in den Niederlanden, daher sind sie ab jetzt niederländische Staatsbürgerin. Bitte, lassen Sie sich einen neuen Pass ausstellen." Zum Glück für die Betroffene wurde ein Kompromiss gefunden: Ein Fenster und die Tür des Hauses durften ausgetauscht werden, womit dessen Eingang in Belgien lag; die Dame durfte ihren alten Pass behalten.

Sehr spezielle Lösungen

In Baarle gibt es alles zweimal: Zwei Ortsnamen, zwei Bürgermeister, zwei Gemeindeverwaltungen, zwei Postämter - aber nur ein gemeinsames Gremium, dass sich um die Zusammenarbeit kümmert, die für die Verwaltung der Stadt nötig ist. Welche Straßen werden asphaltiert, wer pflegt wo den Rasen, holt den Müll ab, wer bezahlt all das - das sind nur einige der Fragen, für die Verwaltungen der Stadt, die zwei Städte ist, nach oft sehr speziellen Lösungen suchen müssen.

Werbung des belgisch-niederländischen Getränkehändlers "Biergrens" (Biergrenze) in Baarle Bild: Sanja Kljajić/DW

"Mit Gesprächen, Geduld und vor allem viel Bereitschaft, erstmal zuzuhören, kommen wir meistens zu einer Lösung. Sie können viel erreichen, indem Sie mit den Betroffenen sprechen, logisch Denken und Freundlichkeit zeigen", erklärt der DW Frans de Bont, Bürgermeister des belgischen Baarle.

Zweierlei Pandemiemaßnahmen

Von den Besonderheiten Baarles kann man auch profitieren. Wohl in keiner anderen Grenzstadt der Welt wissen die Bürger:innen so genau, auf welcher Seite der Grenze das Benzin oder bestimmte Lebensmittel gerade billiger sind. Wo man Tabak preiswert kauft. Und billigt Alkohol trinkt. In welchem der beiden Staaten es das ganze Jahr über Feuerwerkskörper zu kaufen gibt und in welchem nur am 31. Dezember.

Strenge Maßnahmen: Die belgische Hauptstadt Brüssel während des Corona-Lockdowns im März 2020Bild: Reuters/Y. Herman

Erschüttert wurde die Baarler Harmonie durch Corona. Wo Grenzen eigentlich nur Kreuze auf dem Bürgersteig sind, gab es auf einmal echte Unterschiede bei den Pandemieregeln. Belgien machte fast alles dicht - während in den Niederlanden sogar die Cafés weiterarbeiten durften.

Grenze trennt Textildiscounter

Der Höhepunkt der Absurdität ereignete sich in einem Laden des Textildiscounters "Zeman", durch den die Staatsgrenze verläuft: Die Angestellten mussten den belgischen Teil des Geschäfts mit einem roten Band abtrennen, während im niederländischen weiter eingekauft wurde. Die Niederländer unter den Baarler:innen konnten ein neues T-Shirt kaufen - aber keine Unterwäsche, da die im belgischen Teil des Geschäfts lag.

Kaum jemand trägt Schutzmasken in der niederländischen Hauptstadt Amsterdam am 23.07.2020Bild: picture-alliance/ANP/K. van Weel

"Anfangs waren die Friseursalons in Belgien geschlossen - und die in den Niederlanden geöffnet," erinnert sich Bürgermeister de Bont. "Später war es umgekehrt. Versuchen Sie mal, Menschen, die ihre Geschäfte schließen müssen, so etwas zu erklären. Wir erhielten tagelang wütende Anrufe und hatten alle Hände voll zu tun, um die Situation zu beruhigen."

Mit Beginn des Frühlings und abnehmenden Corona-Inzidenzwerten atmet ganz Baarle auf. Das bestätigen die ersten Post-Pandemie-Tourist:innen, die bereits in der Stadt, die zwei Städte ist, angekommen sind, um ein typisches Baarle-Foto zu machen: mit einem Fuß in Belgien und dem anderen in den Niederlanden.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen