Die Todesliste des Karl Jäger
2. Dezember 2012
Die Liste ist gar nicht zu übersehen: Sie hängt gleich vorne in dem kleinen Jüdischen Museum Vilnius, einem bescheidenen Holzbau, der in sich Dokumente des Schreckens und der Verzweiflung birgt, aber auch des Heldenmuts und der Solidarität.
Es hat während der deutschen Besatzung 1941- 44 viele berüchtigte deutsche NS-Täter hier im Land gegeben: Helmut Rauca, beispielsweise, Bruno Kittel, Franz Stahlecker, und eben Karl Jäger. Als SS-Standartenführer, Chef der Sicherheitspolizei und Archivar des Todes gelangte er zu trauriger Berühmtheit. Akribisch hat er aufgelistet, wer wo und wann nach dem deutschen Einmarsch erschossen worden ist – „auf meine Anordnung und meinen Befehl“ wie die „Geheime Reichssache“ überschrieben wurde. Das vergilbte Papier ist noch heute gut lesbar. Karl Jäger, geboren 1888 im Schwarzwaldstädtchen Waldkirch, Sohn eines Musikschullehrers – in Litauen ein Name, der schreckliche Erinnerungen hervorruft.
Eine exemplarische Biografie
Jäger spielte Klavier und Geige, später baute er mechanische Musikinstrumente, heiratete in die örtliche Orgelfabrik ein, nahm am Ersten Weltkrieg teil, wurde schon 1923 Mitglied der NSDAP. Ein Feingeist und Musiker, der zum Massenmörder an den litauischen Juden wurde. Der Historiker Wolfram Wette, der ein Buch über Jäger geschrieben hat, sagt: „Er war ein Mann aus der Mitte der Gesellschaft, eine angesehene Persönlichkeit in Waldkirch, galt als vorbildlich, brillant, korrekt und kultiviert, ein Frauenschwarm. Sonntags sei er stolz mit seinem 100köpfigen SS-Sturm durch die Stadt marschiert.
Akribische Mordbilanz
Kurz nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 kam Jäger im Rücken der Wehrmacht nach Litauen: als Kommandeur eines Einsatzkommandos und mit dem klaren Auftrag, die jüdische Bevölkerung zu vernichten. Schon ein halbes Jahr später war ihm das gelungen. Ende November, nachdem - der Liste zufolge - 133 346 unschuldige Menschen getötet worden waren, meldete Jäger stolz: „Ganz Litauen ist nunmehr judenfrei“. Mitgeholfen haben bei diesem Verbrechen einheimische Kollaborateure, Handlanger, die mit äußerster Brutalität gegen ihre jüdischen Landsleute vorgingen - ein erschreckendes und immer noch tabuisiertes Kapitel in der Geschichte Litauens.
Die Hölle auf Erden
70 000 jüdische Menschen wurden allein in Paneriai, unweit von Vilnius, von den so genannten Einsatzgruppen erschossen. Es gibt Augenzeugenberichte, die über die Mordaktionen Zeugnis ablegen, über die Schüsse, den Rauch, das Schreien der Opfer, das Gebell der Hunde – den letzten Weg, den die Frauen, Männer und Kinder zu den Erschießungsplätzen im Wald von Paneriai gehen mussten. Für die ganz wenigen Überlebenden steht fest: Es war die Hölle. Heute ist der Wald ein Ort stillen Gedenkens, im Schatten der Bäume stehen Denkmale, die Plätze, an denen die Massenerschießungen stattfanden, sind markiert.
Nach dem Krieg – die große Verdrängung
Der einstige SS-Standartenführer Jäger kam 1945 kurz in seine Heimatstadt zurück – niemand behelligte ihn dort mit unbequemen Fragen. Um jedoch ganz sicher zu gehen siedelte Jäger sich in der Nähe von Heidelberg an, verschwieg seine Mitgliedschaft in den NS-Organisationen und lebte dort 15 Jahre lang unter seinem richtigen Namen als unbeschriebenes Blatt und unbescholtener Mann. Historiker Wette sagt: „Das wirft natürlich Fragen auf nach dem damaligen Zustand der deutschen Gesellschaft“. Erst Ende der 50er Jahre tauchte Jägers Name im Rahmen von Ermittlungen und in Akten auf, er wurde festgenommen, wochenlang verhört, doch zum dem eigentlich geplanten großen NS-Prozess kam es nicht mehr. Jäger beging in seiner Zelle Selbstmord.
Das letzte Kapitel – Abwehr und Schweigen
In Waldkirch verhielt man sich nach Kriegsende nicht anders als sonst auch in der jungen Bundesrepublik: Von der Vergangenheit wollte man nichts mehr wissen. Wolfram Wette: „Dass es Jäger überhaupt gegeben hat wurde nach 1945 hier im Städtchen verdrängt und beschwiegen". Niemand mochte an den Massenmörder erinnert werden, nicht die Nachkommen Jägers, nicht die Lokalpolitiker, nicht die Bürger, nicht die Kirchen. Als Wolfram Wette 1989 erste Forschungen veröffentlichte gab es Proteste. Zwanzig Jahre lang hat der Historiker dann alle verfügbaren Informationen zusammengetragen, 2011 ist sein Buch über Karl Jäger erschienen. Und wiederum war das Echo am Ort verheerend. „Ich habe unflätige Anrufe und anonyme Briefe bekommen, die dem nicht nachstehen, was sich 1989/90 abgespielt hat.“
Das Ethos des Historikers
Die jüngere Generation indes bricht das Schweigen. Am örtlichen Gymnasium gibt es Geschichtsprojekte. Zeitzeugen wurden eingeladen, Ausstellungen konzipiert. Überlebende aus Litauen sind gekommen. Die Diskussion ist sachlicher geworden. Wolfram Wette, der Waldkirch mit seinen Forschungen so verstört hat, sitzt am Panoramafenster seines Hauses und sagt: „Ich denke, es gibt ein Ethos des Historikers, eine Pflicht zur historischen Aufklärung. Und für mich gilt diese Pflicht gerade auch dann, wenn ich weiß, dass andere wegschauen.“
In den engen Räumen des Jüdischen Museums in Vilnius drängeln sich die Besucher. Sie kommen aus den USA, aus Deutschland, aus Italien. Aufmerksam betrachten sie die Fotos, lesen die begleitenden Texte. Die Kaltblütigkeit, die aus der Jäger-Liste und vielen anderen Dokumenten spricht, macht sie noch heute fassungslos.