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Europas vergessene Tote

Jeanette Seiffert5. April 2014

Immer wieder verunglücken Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Europa. Eine Gruppe europäischer Journalisten hat nun herausgefunden, dass es deutlich mehr sind als angenommen: Über 23.000 fanden seit dem Jahr 2000 den Tod.

Foto: EPA/JUAN RIOS / NEUPIC
Bild: picture-alliance/dpa

360 Flüchtlinge ertranken im Oktober 2013 vor der Küste der italienischen Insel Lampedusa. Im Februar dieses Jahres kamen 15 Menschen beim Versuch ums Leben, schwimmend die spanische Enklave Deuta in Marokko zu erreichen. In der Regel sind es aufsehenerregende Unglücksfälle wie diese, die dafür sorgen, dass die Flüchtlingstragödien an den Grenzen der EU in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden.

Doch Dramen wie diese ereignen sich auch, wenn niemand hinschaut. Wie viele Menschen kommen also auf dem Weg nach Europa um, in einem der überfüllten Flüchtlingsboote auf dem Mittelmeer oder bei dem Versuch, einen der Grenzzäune zu überwinden, die spanische Enklaven in Afrika gegen Migranten abschotten sollen? Informationen gab es darüber bisher kaum, und schon gar keine verlässlichen Daten. Deshalb hat sich eine Gruppe von Journalisten aus verschiedenen europäischen Ländern an die mühsame Arbeit gemacht, alle dokumentierten Fälle zusammen zu tragen.

Keine brisanten Daten?

Die Informationen für die so genannten Migrant files stammen unter anderem von UNITED for Intercultural Action, einem Netzwerk von 560 Nichtregierungsorganisationen in aller Welt. "Zuerst dachten wir, dass es nur darum geht, vorhandene Daten zu überprüfen", so der französische Journalist Nicolas Kayser-Bril. Aber dann habe sich herausgestellt, dass viele Fälle in einigen Dokumentationen auftauchen, in anderen aber fehlen - und dafür andere genannt werden. "So haben wir festgestellt, dass die tatsächliche Zahl der Toten viel höher ist als angenommen. Und haben angefangen, auch Berichte in Zeitungen und andere öffentliche Quellen auszuwerten."

Gefährliche Reise ins vermeintliche Paradies: Bootsflüchtlinge vor LampedusaBild: picture alliance/ZUMAPRESS

Über 23.000 tote oder vermisste Flüchtlinge seit Anfang des Jahrtausends: Das ist die ernüchternde Bilanz dieser Arbeit - bis zu 5000 mehr als bisher angenommen. Die Zahlen seien nicht neu, meint dagegen die EU-Kommission. "Ich sehe keinen Widerspruch zu unseren bisherigen Schätzungen", sagte Michele Cercone, Sprecher der EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström, der DW. Er könne keine neue Dimension erkennen.

Der Journalist Nicolas Kayser-Bril aber bezweifelt das: "Wir haben mit einer ganzen Reihe von offiziellen Stellen auf EU-Ebene und auch auf nationaler Ebene gesprochen - und wir haben uns überzeugt, dass niemand die geringste Idee hat, wie viele Migranten auf dem Weg nach Europa sterben." Die wahre Zahl der Verunglückten dürfte ohnehin vermutlich deutlich höher liegen, da längst nicht alle Fälle dokumentiert sind. "Wir wissen, dass unsere Daten nicht exakt sind. Aber es ist die beste Untersuchung, die es im Moment gibt", so der Journalist im DW-Interview.

Widersprüche in der EU-Flüchtlingspolitik

EU-Kommissarin Malmström will in den Zahlen zwar keine neue Brisanz erkennen. Doch man sehe sich darin bestätigt, dass in der EU-Flüchtlingspolitik mehr getan werden müsse, sagte ihr Sprecher Michele Cercone. Die Europäische Kommission habe die Mitgliedsstaaten längst aufgefordert, bestimmte Dinge zu ändern: Es gehe zum einen darum, mehr legale Einwanderung zu ermöglichen: "Also die dauerhafte Ansiedlung von Flüchtlingen, um zu vermeiden, dass Menschen, die Schutz brauchen, ihr Leben in die Hand von Menschenhändlern legen müssen, die diese tödlichen Trips organisieren. Zum anderen arbeiten wir enger mit den Herkunftsländern zusammen, um die Netzwerke von Schmugglern und Kriminellen zu bekämpfen, die dahinter stecken." Allerdings, so betont Cercone, liegt die Entscheidung über die dauerhafte Aufnahme von Flüchtlingen bei den jeweiligen Mitgliedsstaaten selbst: "Die Kommission kann sie nicht dazu zwingen."

Ohnehin ist die EU-Flüchtlingspolitik seit Jahren äußerst widersprüchlich: Einerseits wird immer wieder betont, das Leben von Flüchtlingen schützen zu wollen. Andererseits sind die Mitgliedsstaaten aber vor allem daran interessiert, sich so wirksam wie möglich gegen Flüchtlingsströme abzuschotten. So rüstet die Europäische Union an ihren Außengrenzen immer mehr auf: Mit dem neuen Grenzüberwachungssystem "Eurosur" sorgen modernste Techniken wie Überwachungsdrohnen oder satellitengestützte Systeme dafür, dass es Migranten erst gar nicht gelingt, europäisches Gebiet zu betreten. Viele sprechen deshalb von der "Festung Europa".

Grenzschutz-Boot von Frontex: Ein Widerspruch in sich?Bild: Desiree Martin/AFP/Getty Images

Flüchtlinge retten - oder abwehren?

Dieser Widerspruch zeigt sich auch darin, dass die europäische Grenzschutzagentur "Frontex" einerseits Europas Küsten gegen Migranten schützen soll - aber gleichzeitig dabei helfen, in Seenot geratene Flüchtlinge zu retten. Für viele will das nicht so recht zusammen passen: "Frontex hat nun mal die Aufgabe, die Migrationsabwehr zu organisieren", kritisiert etwa Ska Keller, Europaabgeordnete der Grünen. "Wenn wir wirklich Menschen retten wollen, dann müssen wir legale Zuwanderungswege nach Europa schaffen."

Das sieht auch Geert Ates von der Organisation UNITED for Intercultural Action so: "Flüchtlinge werden immer kommen, egal auf welchem Weg. Die Frage ist nur, wie gefährlich er ist - und wie viele dabei sterben." Er setzt aber keine großen Hoffnungen darauf, dass die EU ihre Flüchtlingspolitik ändert: "Dort zählt vor allem, die Grenzen dicht zu machen. Wenn wir etwas verändern wollen, dann müssen wir das auf nationaler Ebene tun, in den Mitgliedsstaaten." Doch die zeigten sich beim EU-Afrika-Gipfel vor wenigen Tagen (02./03.04.2014) beim Thema Flüchtlinge ebenfalls zurückhaltend. Zwar waren sich die Staats- und Regierungschefs aus EU und den afrikanischen Ländern darin einig, dass man Flüchtlingstragödien wie die vor Lampedusa künftig vermeiden will. Konkrete Zusagen, wie viel legale Einwanderung einzelne EU-Staaten künftig zulassen wollen, gab es jedoch nicht.

EU-Kommissarin Malmström: Verantwortung liegt bei den MitgliedsstaatenBild: Georges Gobet/AFP/Getty Images

Für seine Arbeit sei das nicht entscheidend, meint der Journalist Nicolas Kayser-Brill: Ihm gehe es vor allem darum, Schicksale zu dokumentieren und Informationen sammeln, die es bisher noch nicht gab. "Es ist Sache der Politiker und anderer Entscheider, ihre Konsequenzen aus den Daten zu ziehen."

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