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Hauptstadt

Jefferson Chase24. Oktober 2012

Berlin verändert sich - ständig. 775 Jahre nach der Stadtgründung und fast ein Vierteljahrhundert nach der deutschen Wiedervereinigung gibt es in Berlin immer noch zahlreiche Orte, die radikal umgenutzt werden.

Verschiedene Pflanzen wachsen am 17.08.2010 im Prinzessinnengarten am Moritzplatz in Berlin-Kreuzberg. Anfang Juni 2009 lagen hier noch alte Bettgestelle, Scherben, Reifen und Batterien. Auf dem Boden wäre wenig gewachsen. Heute steckt in den mobilen Pflanzbehältern fruchtbare Erde. Gerade Anwohner in dem sozial schwachen Kiez sollen im Garten aktiviert und einbezogen werden. Das scheint Früchte zu tragen. Zum Beispiel bringen Frauen vorgezogene Paprika aus Anatolien mit. Foto: Rainer Jensen dpa/lbn (zu lbn-Korr. vom 26.08.2010) +++(c) dpa - Bildfunk+++
Berlin PrinzessinnengartenBild: picture-alliance/dpa

Reisende, die am Flughafen Berlin-Tegel ankommen, landen in einer zukünftigen Hochschule für Technik. Noch ist es schwer, sich das vorzustellen, wenn man im Flughafengebäude vorbei an Schnellrestaurants und Souvenirläden schlendert. Mit viel unverputztem Beton und eckigen Kanten versprüht das 1974 eröffnete Gebäude den Charme eines Rohbaus. Die Architekten um den heute weltberühmten Meinhard von Gerkan gestalteten es damals nach der Maxime der Funktionalität. Einzigartig bis heute ist die sechseckige Ringform des Bauwerks: Sie ermöglicht im Vergleich zu anderen Flughäfen spektakulär kurze Wege vom Gate zu Taxi oder Bus.

Ein Flughafen wird zum Innovationspark

Bald stillgelegt: der Flughafen TegelBild: picture alliance/Arco Images GmbH

Die zukünftige Technikhochschule ist Teil eines sogenannten Masterplans für die Umnutzung des Westberliner Flughafens nach seiner Schließung 2013. Auf der 460 Hektar großen Fläche sollen Forschungsinstitute, kleine Startups und namhafte Firmen zu einer "Produktionskette“ vereint werden - zumindest laut Philipp Bouteiller, Geschäftsführer der Tegel Projekt GmbH. "All das nur 15 Minuten vom Regierungsviertel entfernt", sagt Bouteiller. "Das ist meiner Meinung nach einzigartig in Deutschland."

Riesige Spielwiese in TempelhofBild: DW/C.Deicke

Picknick neben der Landebahn

Einzigartig ist auf jeden Fall das Tempo, in dem Berlin sich verändert. Auf dem Rollfeld des ehemaligen Flughafens Tempelhof beispielsweise flitzen seit seiner Schließung 2008 begeisterte Rollerblader und Extremsportler mit Kitelandboards und ähnlichen abenteuerlichen Geräten über die ehemaligen Landebahnen. Die weiten Wiesen sind beliebte Picknickplätze mit der ehemaligen Empfangshalle in strenger 30er-Jahre Architektur als mächtiger Hintergrundkulisse. Und schon gibt es offizielle Pläne, nach denen das Tempelhofer Feld bald in eine urbane Parklandschaft verwandelt werden soll.

Skaten im Park am GleisdreieckBild: Lara Brekenfeld

Stadtbrache zwischen gestern und morgen

Der jüngste große Umbruch in Berlins Geschichte, die deutsche Wiedervereinigung, hat deutliche Spuren in der Stadt hinterlassen. Besonders in der Umgebung der Mauer, die jahrzehntelang brachlag, wird abgerissen, saniert und umgenutzt. Der Park am Gleisdreieck beispielsweise, dessen Osthälfte im September 2011 eingeweiht wurde und dessen Westhälfte im Herbst 2013 öffnen soll, liegt im ehemaligen Niemandsland. Vor dem Zweiten Weltkrieg stand hier ein Güterbahnhof, der danach stillgelegt wurde und verfiel. Die Idee, dort einen Park entstehen zu lassen, wo einst die Berliner Mauer einen Zentralbahnhof zur Endstation machte, geht zurück auf eine Bürgerinitiative Mitte der 70er Jahre. Der Park am Gleisdreieck ist in Kooperation zwischen Stadtplanern und Bürgern entstanden und war Finalist beim Europäischen Gartenpreis 2012. Eine Mutter, deren Kinder auf dem neu gestalteten Spielplatz „Stangenwald“ toben, lobt die Ruhe, die sie sonst selten in der Innenstadt findet: "Der Park erhöht enorm die Lebensqualität im Kiez."

Viele Details weisen hier auf die Vergangenheit hin. Stillgelegte Schienen führen in die sogenannte Gleiswildnis, einen Teil des Parks, der sich selbst überlassen bleiben soll. Gräser und Sträucher überwuchern hier rostige Schaltanlagen, Eichenschwellen verrotten im ehemaligen Gleisbett. Auf den Treppen alter Lagerhallen sonnen sich Parkbesucher. Am südlichen Ende des Westparks entsteht eine Beachvolleyball-Anlage. Der Sand dafür stammt aus einer Baugrube am Alexanderplatz.

Über die Gleise rollt kein Zug mehrBild: Lara Brekenfeld
Gemüse aus der StadtBild: DW/Axel Warnstedt

Kartoffelernte zwischen Häuserschluchten

Südlich vom "Alex" gibt es ein Projekt, das weder staatliche Unterstützung noch zahlungskräftige Investoren oder Bauherren braucht, um Frisches an einem verfallenen Ort wachsen zu lassen: die Prinzessinnengärten.

Im Herbst ist Zeit für die Kartoffelernte. Fünf Frauen gemischten Alters sind dabei, die Knollen aus mit Erde gefüllten Bäckereikisten und Jutesäcken zu holen. Sie treffen sich nur, wenn sie hier gemeinsam gärtnern. Zuerst seien sie aus Neugier gekommen - und dann dabei geblieben: "weil man hier etwas lernt und neue Leute kennenlernt."

2009 entsorgten die Gründer Robert Shaw und Marco Clausen rund zwei Tonnen Müll von dem Gelände einer rund 6000 Quadratmeter großen Baulücke. Dann verwandelten sie das von ihnen gepachtete Areal in einen unkonventionellen Gemeinschaftsgarten. Einen Masterplan hatten und wollten sie nicht. Einen neuen Ort schaffen und sehen, was daraus wird - das war ihre Idee.

Hier im Herzen des alternativen Kreuzbergs ist Gärtnern Kollektivarbeit. Jeder, der möchte, darf mitmachen. Die Pflanzen wachsen nicht im Boden, sondern in Behältern aller Art. So sind sie transportierbar, damit das Projekt zur Not schnell umziehen kann. Denn seine Zukunft ist ungewiss. Die Stadt will die Fläche verkaufen.

Entspannen im Open Air-CaféBild: DW/Axel Warnstedt

Der Weg ist das Ziel

Deutsche und internationale Medien wie der Spiegel, die New York Times oder CNN loben das Projekt in ihren Berichten. Mitbegründer Marco Clausen hat inzwischen sogar ein Buch darüber herausgebracht. Auch deshalb entdecken immer mehr Touristen die Prinzessinnengärten. Zwischen Zitronenmelisse und Sauerampfer wird ebenso oft Englisch wie Deutsch gesprochen.

Nun wollen die Gärtner die Kartoffeln in weichen Ton wickeln und dann rösten. "I zink it must be zin" - ich glaube, er sollte dünn sein, sagt Franzose Pierre, der anscheinend Ahnung hat. Die Frauen probieren es mit einem Nudelholz, während einige Touristen die Kartoffeln fotografieren. Ob das Kartoffeln-Rösten auf diese Art klappen wird, weiß keiner der Anwesenden so richtig, aber es ist der Versuch, der zählt, nicht unbedingt das Ergebnis.

Ausprobieren, sich neu erfinden - das sind Stärken der deutschen Hauptstadt. Und wer sich in den Prinzessinnengärten in dem aus Sperrholz zusammen gezimmerten Open Air-Café unter wucherndem Blattwerk einen Bio-Saft schmecken lässt, spürt das Lebensgefühl im "unfertigen“ Berlin mit seinen Freiräumen, die gestaltet werden wollen.

Berlin - unterwegs mit Nachtschwärmern

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