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Gesellschaft

Die unsichtbaren Wände von Vukovar

7. August 2018

Auch 23 Jahre nach dem Ende des Krieges um Vukovar ist wenig normal zwischen Kroaten und Serben. So werden beispielsweise Schulkinder nach ethnischer Herkunft getrennt. Srecko Matic besuchte die ostkroatische Stadt.

Vukovar Reportage Schulunterricht Bücher Lateinisch und Kyrillisch
Bild: DW/S. Matic

Da sind zum Beispiel Kristina und Filip. Gleiche Schule, dieselben Lehrer und dennoch leben sie in unterschiedlichen Welten. Sie kennen sich kaum. Denn serbische und kroatische Kinder lernen in Vukovar praktisch getrennt. Die einen drücken die Schulbank vormittags, die anderen nachmittags.

"Da wir in unterschiedlichen Schichten sind, können wir uns eigentlich nur am Wochenende sehen, oder im Vorbeigehen, wenn die kroatische Schicht das Schulgebäude betritt", beklagt die 13-jährige Kristina Islentieva: "Als ob jemand uns daran hindern würde, dass wir uns treffen und Zeit miteinander verbringen."

Segregation nach ethnischer Herkunft - und zwar mitten in einem EU-Mitgliedsland. Schuld daran ist das offizielle Schulprogramm in Kroatien. Das sieht vor, dass der Unterricht im Osten Kroatiens in zwei Sprachen und zwei Schriften abzuhalten ist: Lateinisch und Kyrillisch. Es ist die Folge der sogenannten "friedlichen Reintegration Ostkroatiens", die 1998 durch die Wiedereingliederung des Gebiets in Kroatien beendet wurde.

Mit gemeinsamen Sport-, Kultur- und Freizeitangeboten gegen die Trennung - Schuldirektorin Lidija Miletic Bild: DW/S. Matic

Die Politiker haben sich damals darauf geeinigt, damit die kulturelle Identität der serbischen Minderheit besser geschützt wird. Die Eltern haben dadurch freie Wahl bei der Entscheidung welche Klasse ihre Kinder besuchen sollen. Und die entscheiden sich bis heute für die Trennung.

"Ich würde sofort mit dem Unterricht in zwei Schichten aufhören. Denn so vertieft man nur Unterschiede zwischen Menschen. Wenn ich Bürgermeister wäre, würde ich dafür sorgen, dass alle Schulen das gleiche Programm, die gleichen Lehrbücher haben", sagt der 14-jährige Filip Rutko.

Gemeinsame Aktivitäten nach der Schule

Lidija Miletic kämpft gegen die Trennung. Mit ihrem Team setzt sich die Schuldirektorin der Grundschule "Dragutin Tadijanovic" für ein besseres Miteinander der etwa 230 kroatischen und 90 serbischen Kinder ein.

Und zwar mit gemeinsamen Aktivitäten. Nach dem Unterricht gibt es freiwillige Sport-, Schauspiel-, Tanz-, Musik- und viele andere Angebote, erzählt sie uns. "Obwohl die Schüler den Unterricht entweder in der einen oder der anderen Sprache besuchen, sind wir immer eine Einheit, wenn wir irgendwo auswärts auftreten und unsere Schule repräsentieren. Daran arbeiten wir gemeinsam, wie eine große Schule."

Im Unterricht getrennt, ansonsten aber in "Kontakt" - Schüler Kristina und Filip Bild: DW/S. Matic

Getrennte Schulklassen, kroatische und serbische Kindergärten, Radiostationen und sogar Cafès. Die Teilung durchzieht die barocke, einst so wohlhabende Stadt fast wie eine unsichtbare Wand - auch mehr als zweieinhalb Jahrzehnte, nachdem hier schreckliche Verbrechen begangen wurden.

In der dreimonatigen Belagerung durch serbische Truppen starben damals mehr als 2.000 Menschen, darunter viele Zivilisten. Die Trümmer sind zwar längst aufgeräumt. Doch nicht alle Wunden sind geheilt, so die Diagnose von Dijana Antunovic Lazic aus dem Europäischen Haus in Vukovar. "Die Institutionen arbeiten jeweils für sich. So funktionieren auch die Bürger. Meiner Meinung nach ist der mangelnde Dialog, der auf allen Ebenen in der lokalen Verwaltung gelebt werden sollte, hier das größte Problem."

Mangelndes Interesse am Zusammenleben

Die Politik weist die Verantwortung von sich. Getrennte Kitas und Schulklassen? - Alles freie Wahl der Eltern, man könne da halt nichts machen, hören wir aus dem Büro des Bürgermeisters. "Sie müssen auch wissen, dass all diese Kinder gemeinsam funktionieren, in Klubs, im Sport. Dieses Zusammenleben ist viel besser als früher", so Ivana Mujkic, stellvertretende Bürgermeisterin im DW-Interview.

"Und das sieht man am besten unter den Kleinsten." Doch die Teilung, so scheint es, passt den politischen Eliten - auf beiden Seiten. Es mangelt einfach am politischen Willen für ein Ende der Segregation.

Paradebeispiel ist die multiethnische Schule im benachbarten Borovo. Hier sollten die kleinen Serben und Kroaten schon längst gemeinsam lernen. Doch keine Schüler weit und breit. Das Projekt, finanziert mit EU-Geldern, ist bislang gescheitert. Der Grund: mangelndes Interesse von beiden Seiten.

Wirtschaftliche Folgen des Krieges

Nicht das einzige Problem in Vukovar. Die Stadt, die einst mehr Arbeitsplätze als Bewohner hatte, kämpft auch mit den wirtschaftlichen Folgen des Krieges. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, vor allem junge, gut ausgebildete Fachleute wandern aus.

Vor dem Krieg lebten hier fast 50.000 Einwohner. Und heute? Vielleicht die Hälfte, so ganz genau weiß man das nicht. Wie lebt man an der Donau? Die Stimmen der Bürger: "Jeder ist mit seinem eigenen Kram beschäftigt, wir mischen uns nicht in die Leben der anderen ein. Ich habe Nachbarn diverser Nationalitäten, wir kommen klar miteinander."

2Es gibt natürlich immer Extreme, es gibt Leute, die an beiden Seiten Konflikte provozieren. Aber die jungen Menschen, sie verbringen die Zeit zusammen, die Serben, Kroaten, Albaner, Bosniaken. Das spielt keine Rolle mehr in Vukovar, zumindest nicht unter den Jugendlichen."

Glaube an Vukovars Zukunft

Trotz allem ist eine positive Entwicklung zu sehen. Es geht langsam voran mit dem Zusammenleben. Das ist auch das Verdienst von Pädagogen wie Lidija Miletic. Die 1990er Jahre hat sie selbst als Kriegsflüchtling erlebt - in Zagreb.

Der Grund der Trennung: Vukovar am 19.11.1991 nach mehr als 2.000 Toten Bild: picture-alliance/dpa/afp

Später kam sie zurück in ihre völlig zerstörte Heimatstadt. Weil sie an Vukovars Zukunft glaubte. "Die Leute ziehen weg, aber sie werden auch zurückkehren. Sie sind alle Bürger Vukovars. Die Menschen hier haben schon vor 5.000 Jahren gelebt, es gibt keinen Grund, dass es auch in Zukunft nicht so werden wird."

Traum von einer Künstlerkariere

Auch Kristina wird eines Tages wegziehen. Die 13-jährige Schülerin träumt von einer Künstlerkarriere im Ausland. Den Krieg kennt sie nur aus Erzählungen. Trotzdem bestimmt er ihr Leben.

"Als ob da eine unsichtbare Wand zwischen uns wäre. Ich wünschte, diese Wand würde einstürzen, damit alles normal wird. Damit wir mehr Zeit miteinander verbringen können."

Das hoffen viele hier, nicht nur die Kinder. Sie wollen miteinander, und nicht nur nebeneinander leben.

Srecko Matic Redakteur, Autor, Reporter, vor allem für DW Bosnisch/Kroatisch/Serbisch
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