Massenmord als Melodram – Die US-Serie "Holocaust"
28. Mai 2009Als am 22. Januar 1979 in den dritten Fernsehprogrammen der ARD die US-amerikanische Fernsehserie "Holocaust" anläuft, wissen die Zuschauer kaum, was auf sie zu kommt. Der Vierteiler erzählt die tragische Geschichte der jüdischen Arztfamilie Weiß, ihrer Verfolgung und Ermordung durch das nationalsozialistische Deutschland. Parallel dazu wird der Aufstieg des Juristen Erik Dorf gezeigt, der als SS-Offizier Karriere macht und sich an den Massenmorden beteiligt. Erschüttert verfolgen die Deutschen das Schicksal der Familie Weiß am Bildschirm. Die Opfer erhalten ein Gesicht. Das ermöglicht die Einfühlung in das Leiden der verfolgten Juden.
In Deutschland verändert "Holocaust" das Bewusstsein vieler Menschen. Der Film bringt erstmals ein Massenpublikum dazu, sich mit der NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen. Er ist ein Meilenstein in der Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik, schreibt der Politologe Peter Reichel. Kein anderer Film hätte es je geschafft, so viele Menschen vor den Fernseher zu bringen, um sich mit den NS-Verbrechen zu beschäftigen, so die Journalistin Beate Klarsfeld.
Umstrittener Quotenbringer
Doch die Holocaust-Serie ist umstritten. Darf man den Massenmord an den Juden als Fernseh-Soap darstellen? Viele Zuschauer und Historiker kritisieren die Entscheidung des Westdeutschen Rundfunks, die Serie überhaupt auszustrahlen. Die Reaktionen der Zuschauer werden sogar wissenschaftlich untersucht: Während einer von vier Befragten fordert, man solle das Thema endlich ruhen lassen, zeigen sich zwei von drei Zuschauern tief erschüttert. Auffallend ist, dass die Generation der 20 bis 35-Jährigen besonders positiv auf die Serie reagiert.
Was Dokumentationen, Lehrbücher, wissenschaftliche Arbeiten und Schulstunden nicht geschafft hatten, gelingt der Filmserie. Die Funkhäuser erhalten über 30.000 Anrufe aus ganz Deutschland und 12.000 Zuschauerbriefe. Es gibt Rekordeinschaltquoten für die dritten Programme der ARD, wie sie nie zuvor und nie danach wieder erreicht werden: Bis zu 18 Millionen Menschen sitzen bei jeder Folge vor dem Bildschirm. Selbst die Diskussionsrunden mit Historikern und Zeitzeugen, die sich jeder Folge anschließen, verfolgen noch 18 Prozent der Zuschauer.
Geschönte KZ-Atmosphäre
Doch die Kritik verstummt nicht. "Alle Häftlinge litten an chronischem Durchfall. Wir stanken, wir ekelten uns vor uns selber", so die Auschwitz-Überlebende Renate Lasker-Harpprecht. Das habe man in diesem Film überhaupt nicht gesehen, sondern nur "eine manikürte Version von Edelmut, schönen Menschen und Todesverachtung." Medienwissenschaftler sprechen von der Trivialisierung der Judenvernichtung, der Emotionalisierung und Verfälschung der Geschichte. Überlebende wie Literaturnobelpreisträger Elie Wiesel heben das kommerzielle Kalkül der Seifenoper heraus, die eine Beleidigung für die Ermordeten und Überlebenden sei.
Die Wirkung der Serie ist dennoch unbestritten: Nach Ausstrahlung einer "Kristallnacht"-Szene etwa melden sich zahllose aufgewühlte Deutsche in Polizeirevieren, die sich als Teilnehmer der Pogrome selbst im Nachhinein für ihr Mitwirken an der Judenhetzjagd anzeigen wollen. So enden die siebziger Jahre mit einer Rückbesinnung auf die Zeit des Nationalsozialismus – hervorgerufen durch einen Hollywoodfilm im deutschen Fernsehen. Auch wenn die Geschichtswissenschaft mit ihren Forschungen schon damals viel weiter ist, haben ihre Ergebnisse das kollektive Bewusstsein der Deutschen augenscheinlich nicht erreicht. Holocaust – der Titel der Fernsehserie wird nun zum Synonym für den Massenmord an den Juden.
Autor: Michael Marek
Redaktion: Ramon Garcia-Ziemsen