Die verlassenen Kinder Osteuropas
16. April 2014Während ihrer Arbeit an einem Dokumentarfilm hat die Regisseurin Alexandra Gulea einen neunjährigen Jungen kennengelernt, der von zu Hause weggelaufen war. Er war der Sohn eines Bergarbeiters aus dem Jiu-Tal in den rumänischen Karpaten. Alexandra Gulea, die selber in Rumänien geboren ist, hat sein Schicksal über mehrere Jahre verfolgt und den Kontakt zu dem Jungen aufrechterhalten: Er landete in einem Waisenhaus, dann war er mal wieder zu Hause, dann abwechselnd in einem Heim für Behinderte oder im Krankenhaus. Heute ist er 18 Jahre alt und lebt in Italien. "Durch seine Augen habe ich die Welt eines einsamen Kindes in allen Facetten kennengelernt", so die Regisseurin, die heute abwechselnd in Rumänien, Deutschland und Frankreich lebt und in Bukarest, Paris und München studiert hat.
Die Begegnung mit diesem Jungen hat sie zu ihrem Spielfilm "Matei - Ein Bergmannskind" (Rumänisch: "Matei Copil Miner") inspiriert, der auf dem Internationalen Frauenfilmfestival in Köln seine Deutschlandpremiere feierte. Das Festival ist das älteste auf internationaler Ebene, das die Arbeit von weiblichen Filmemacherinnen in den Vordergrund stellt - und das einzige Frauenfilmfestival in Deutschland.
Die Autorin und Regisseurin geht der Frage nach, wie sich Kinder fühlen, die von ihren Eltern allein im Heimatland zurückgelassen werden, im besten Fall bei den Großeltern, aber oft auch nur unter der Aufsicht der Nachbarn. In den Medien werden solche Kinder oft als "Eurowaisen" bezeichnet. Zu dieser schwierigen Situation kommt es in Rumänien und anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks, weil die Eltern im Ausland Geld verdienen müssen. Denn in der Heimat gibt es in vielen Regionen wenige Jobs, vor allem da, wo die Spuren des Kommunismus noch deutlich sind, wo an der Stelle von alten Industrieanlagen heute nur noch Arbeitslosigkeit und Armut ganze Landstriche beherrschen. Auch im Jiu-Tal in Rumänien haben die Menschen, die einst vom Bergbau lebten, durch die Schließung vieler Bergwerke inzwischen ihre Arbeit verloren.
Allein mit dem Großvater
Matei, der Protagonist des Films, lebt dort in der Bergbausiedlung Uricari bei seinem Großvater, nachdem die Eltern nach Italien gegangen sind. Der Elfjährige ist ein leidenschaftlicher Beobachter der Natur - der Obstbäume, die der Opa liebevoll pflegt und der Insekten, die er akribisch sammelt und studiert. Zwischen ihm und seinem Großvater entsteht eine besondere Beziehung, die aber einen Bruch erleidet, als Matei der Schule verwiesen wird. Es ist eine Schule, in dem das autoritäre Bildungssystem des Kommunismus noch präsent ist, und Kinder sehr hart bestraft werden, wenn sie sich nicht den Regeln beugen. Dazu kommt, dass auch der Großvater diesen Erziehungsstil befürwortet und mit Gewalt versucht, den Jungen auf den rechten Weg zu bringen.
Matei reißt von zu Hause aus und schließt sich einer Schulklasse an, die nach Bukarest fährt. Dort erfüllt er sich einen Traum und schleicht sich in das Naturkundemuseum ein. Als er wieder zurückkehrt, liegt der Großvater im Sterben.
Das Schicksal des Protagonisten dieser rumänisch-deutsch-französischen Koproduktion teilen viele Kinder in Rumänien und anderen Ländern Osteuropas. Prozentual fehlen die meisten Eltern in der Republik Moldau: Nach Angaben der Weltbank arbeitet mindestens ein Viertel der Bevölkerung im Ausland. Alexandra Gulea hat sich entschieden, nicht mit einem rumänischen Kameramann zu arbeiten: "Ich habe mir einen frischen Blick gewünscht, jemanden, der mit der rumänischen Realität wenig vertraut ist, der sogar zum ersten Mal das Land besucht", so die Regisseurin, die mit dem deutschen Kameramann Reinhold Vorschneider an dieser Produktion gearbeitet hat.
"Für die Kinder gehört das zur Normalität"
Der Film beeindruckt durch starke Bilder, die bewegende Geschichte des Jungen und ungewöhnliche Kontraste: Die idyllischen schneebedeckten Berghänge, der gepflegte Obstgarten und die bröckelnden Fassaden der Häuser, die das Stadtbild der heruntergekommenen Ortschaft prägen - als Zeugen des jahrzehntelangen kommunistischen Regimes. Einerseits herrscht Armut und Arbeitslosigkeit, andererseits sind die Symbole des Kapitalismus sichtbar: Zum Beispiel die Markenkleider, die Kindern von ihren Eltern aus dem Westen bekommen, oder eine Schachtel mit dem Logo eines bekannten Schokoladenherstellers. Darin nimmt Matei einen verletzten Vogel auf seine Reise nach Bukarest mit, den er dort im Fluss Dambovita "bestattet".
Frei von Sentimentalität wird die Geschichte von Matei mit langen Kamerafahrten - mal von unten, dann wiederum von den Gipfeln der Berge aus - erzählt. Der schauspielerisch begabte Hauptdarsteller, Alexandru Czuli, kommt selber aus dem rumänischen Jiu-Tal und stand jetzt zum ersten Mal vor der Kamera. Zwar hat er das Glück, dass seine Eltern nicht im Ausland arbeiten - was in der Region alles andere als selbstverständlich ist. Doch das Problem kennt er von vielen gleichaltrigen Freunden und Bekannten, erzählt Alexandra Gulea: Auch die Eltern der beiden Jungen, die im Film seine Freunde spielen, arbeiten in Westeuropa. "Für die Kinder gehört das mittlerweile zur Normalität", sagt die Autorin und Regisseurin von "Matei - Ein Bergmannskind". Und sie sind wohl auch nicht die letzten Kinder, die ohne Eltern aufwachsen müssen.