Die vielen Talente der Nonne Hildegard
10. August 2011Freundlich blickt Hildegard von Bingen aus ihrem Bilderrahmen in das Wartezimmer. Die Bankangestellte Angela Buchholz sitzt darunter und blättert gelassen in einer Zeitschrift. An diesem Morgen ist sie zum Blutabnehmen in die Praxis der Bonner Heilpraktikerin Jutta Prinz gekommen. Und sie freut sich darauf. "Danach geht es mir immer sehr gut", sagt sie. "Ich bin fröhlich, entspannt und konzentrierter bei der Arbeit."
Was Angela Buchholz als "Blutabnehmen" bezeichnet, nannte Hildegard von Bingen "Aderlass". Der hat heute allerdings einen schlechten Ruf, denn nicht selten starben Menschen im Mittelalter an der maßlosen Blutentnahme. Der Aderlass nach Hildegard von Bingen aber soll das Immunsystem stärken und Entzündungen hemmen - vorausgesetzt, es werden bestimmte Regeln eingehalten. So muss er sechs Tage nach Vollmond stattfinden, der Patient sollte nüchtern sein und der Arzt darf nur so lange Blut abnehmen, bis das dunkle Blut einen helleren Farbton bekommt.
Dinkel macht fröhlich
"Das klingt erst mal verrückt", gibt Heilpraktikerin Jutta Prinz zu, "denn aus Sicht der Schulmedizin ist Blut homogen." Aber sie sehe jeden Monat, dass sich die Farbe des Blutes verändere, wenn sie 50 bis maximal 200 Milliliter abnehme. "Die Patienten bestätigen die Wirkung, die Hildegard schon vor über 800 Jahren beobachtet hat", erklärt Prinz. "Sie haben weniger Erkältungen, fühlen sich ausgeglichener und leistungsstärker."
Wissenschaftlich nachweisen lassen sich diese Effekte des Aderlasses nicht. Die wohltuende Wirkung ist wohl eher eine Glaubenssache. Andere Heilverfahren der mittelalterlichen Äbtissin sind dagegen auch schulmedizinisch erklärbar. Johannes Mayer, Leiter der Forschungsgruppe Klostermedizin der Universität Würzburg, weist etwa auf die krampflösende Wirkung im orientalischen Gewürz Galgant hin. Und Dinkel – der Klassiker der Hildegardmedizin – sorgt nicht nur für eine gute Verdauung, sondern auch für ein fröhliches und entspanntes Gemüt, weil es Tryptophan enthält, eine Aminosäure, die das Glückshormon Serotonin aktiviert. Mayer warnt allerdings davor, die Rezepte der Äbtissin kritiklos zu übernehmen. "Bei ihr fehlen oft Mengenangaben und bei manchen pflanzlichen Stoffen hat sie sich auch geirrt." Etwa wenn Hildegard von Bingen das Kauen giftiger Maiglöckchen gegen Hauterkrankungen empfiehlt.
Visionen machen sie berühmt
Dennoch: Die umfassenden heilkundlichen Kenntnisse der gelehrten Nonne erstaunen auch die Wissenschaftler, zumal Hildegard von Bingen immer Körper und Seele im Blick hatte. Sie dachte ganzheitlich - und das in einer Zeit, die von einer großen Körperfeindlichkeit, von Kreuzzügen und Machtkämpfen zwischen Papst und Kaiser geprägt war. "Egal, ob man ihre theologischen oder medizinischen Schriften nimmt, es geht letztlich immer um die Heilung des Menschen", betont Jutta Prinz.
Bekannt wurde Hildegard von Bingen vor allem durch ihre theologischen Schriften. Erst mit 43 Jahren begann die Äbtissin, ihre Gedanken und Bilder über Gott, die sogenannten "Visionen", aufschreiben zu lassen. Das machte sie mit einem Schlag berühmt. Vom Papst als Prophetin anerkannt, war sie eine kritische Ratgeberin für die Großen ihrer Zeit. Sogar mit Kaiser Friedrich Barbarossa korrespondierte sie.
Hildegard als Marke
Zielstrebig trieb Hildegard von Bingen die Gründung zweier Nonnenklöster voran. Bis sie im hohen Alter von 81 Jahren starb, leitete sie Kloster und Ordensgemeinschaft, schrieb an ihren Visionen und heilkundlichen Schriften, komponierte 77 Choräle und verfasste rund 2000 Rezepte. Schon kurz nach ihrem Tod wurde die Äbtissin als Volksheilige verehrt. Ihre Reliquien in einem goldenen Schrein in der Pfarrkirche von Eibingen am Rhein aufbewahrt. Noch heute pilgern viele Menschen dorthin.
Ihre christliche Naturheilkunde ist heute im deutschsprachigen Raum bekannter als ihr theologisches Werk. Verantwortlich dafür ist der österreichische Arzt Gottfried Hertzka. Er übersetzte Hildegards Rezepte und probierte sie selbst aus. Basierend auf seinen Erfahrungen entwickelte sich die heutige "Hildegard-Medizin" - mit allen Vermarktungsstrategien, die dazugehören.
Nicht nur in deutschen Naturheilpraxen, auch in vielen Bioläden lächelt Hildegard von Bingen den Kunden entgegen, auf Dinkel- und Müslipackungen, selbst auf Teedosen ist die Äbtissin zu sehen. Das aber geht sogar Heilpraktikerin Jutta Prinz zu weit. "Die Hildegard-Medizin kennt fast keine Tees, die meisten Kräuter werden in Wein gekocht", schmunzelt sie.
Autorin: Sabine Damaschke
Redaktion: Cornelia Rabitz