Die Wahl, die über die Zukunft entscheidet
28. November 2019Im September begann der Kampf um jede Wählerstimme. Seitdem hat Ed Shackle keine ruhige Minute mehr. An Universitäten und Schulen im ganzen Land organisiert der 24-jährige Zusammenkünfte zwischen Kandidaten aller Parteien und jungen Menschen, um sie für die Wahl zu begeistern, aber vor allem, um sie zu registrieren.
"Diese Wahl entscheidet über unsere Zukunft, deshalb ist es auch so wichtig, dass so viele Leute wie möglich an die Wahlurne treten," erzählt Shackle leidenschaftlich. Er arbeitet für die Organisation 'Vote For Our Future", die erste überparteiliche Kampagne, die es sich zum Ziel gesetzt hat, möglichst viele junge Leute zu registrieren.
"Die Sichtweisen der nächsten Generation"
Shackle selbst ist konservativ, ein Tory-Wähler. Eigentlich. Denn er ist gegen den Brexit, vor allem gegen ein schlechtes Abkommen mit der Europäischen Union, und genau deshalb auch enttäuscht von seiner Partei. Darüber aber will und kann er, jetzt, wo er für eine unparteiische Organisation arbeitet, nicht mehr reden.
Lieber spricht er davon, was die jungen Wähler bewegt, wie der Klimawandel oder Frauen- und Minderheitenrechte: "Das sind die Themen, die viele junge Menschen umtreiben. Normalerweise sprechen die Kandidaten darüber nicht so viel. Auf unseren Veranstaltungen werden sie aber genau dazu gelöchert und das öffnet ihnen natürlich auch die Augen für die Sichtweisen der nächsten Generation."
Noch einmal über den Brexit abstimmen
Wie überall sonst auf der Insel wird aber natürlich auch der Brexit unter jungen Menschen viel diskutiert. Und genau deshalb sehen gerade viele Junge die Wahl als historisch an. Eben weil die Briten in gewisser Weise noch einmal erneut über den Austritt Großbritanniens aus der EU entscheiden werden.
Seit dem knappen Ausgang des Referendums sind über drei Jahre vergangen. Drei Jahre, in denen der Brexit die Schlagzeilen dominierte. "Für viele ist diese Wahl die erste seit dem Volksentscheid, an der sie teilnehmen können. Sie haben alles über den Brexit gehört. Jetzt können sie selbst abstimmen", sagt Shackle.
Je jünger, desto linker
Der Riss, den der Brexit durch die britische Gesellschaft gezogen hat, spiegelt sich auch demographisch. Eine überwältigende Mehrheit von 73 Prozent der 18- bis 24-Jährigen stimmte 2016 gegen den Austritt. 60 Prozent der über 65-Jährigen dafür. Auch in Großbritannien gilt: Je jünger, desto linker. Bei dieser Wahl kommen da die Labour-Partei, die Liberaldemokraten und die Grünen in Frage.
Labour fordert eine zweite Volksabstimmung zum Thema Brexit und verspricht die Abschaffung der Studiengebühren. Die Liberaldemokraten wollen den Brexit gleich ganz abschaffen und Mitglied der EU bleiben. Und die Grünen versprechen beim Klimawandel hart durchzugreifen.
Diese drei Parteien vereinen bislang einen Großteil der jungen Wähler auf sich. Laut neuesten Umfragen des Meinungsforschungsinstituts YouGov werden 38 Prozent der 18- bis 29-Jährigen für Labour stimmen, 18 Prozent für die Liberalen und bis zu 15 Prozent für die Grünen.
Nur 16 Prozent der jungen Wähler wollen die Konservativen wählen
Das könnte für Boris Johnson und die Tories zum Problem werden - nur 16 Prozent der jungen Wähler geben an, die Konservativen wählen zu wollen. Die Partei gilt unter Jungwählern als alt, weiß und spießig. Und sie fordert den sofortigen Brexit.
Aber es gibt sie, die Konservativen unter den jungen Wählern. Ronnie Reid, zum Beispiel, hat mit 24 Jahren bereits dreimal die Tories gewählt, 2015, 2017 und bei den Europa-Wahlen. Jetzt im Dezember will er es wieder tun: "Klar, Boris Johnson ist kein Heiliger, aber er hat eine Persönlichkeit, mit der er die Leute begeistern kann. Wir brauchen endlich Klarheit in Sachen Brexit. Auch dafür wird er sorgen."
Reid ist gesellschaftlich fortschrittlich, für die gleichgeschlechtliche Ehe und Abtreibung zum Beispiel, aber eben fiskalkonservativ und bei beiden Themen trifft Johnson seine Meinung. Seine Stimme für die Tories wird allerdings nicht viel zählen.
Johnson wollte Studenten als Wähler meiden
In Großbritannien gilt das Prinzip der Mehrheitswahl. Das Land ist in Wahlkreise unterteilt, die von je einem Parlamentsabgeordneten vertreten werden. In Reids Gegend Vauxhall gewinnt traditionell die in Bezug auf Brexit moderatere Labour-Partei, wie in vielen eher studentisch geprägten Wahlkreisen.
In Manchester und Nottingham beispielsweise gibt es mit die meisten Studierenden im Land. In manchen Wahlkreisen dort haben sie seit den 1980er Jahren keinen konservativen Abgeordneten mehr gewählt. Deshalb wollte Johnson auch eine hohe Wahlbeteiligung von Studierenden bei der kommenden Parlamentswahl möglichst vermeiden, indem er mit dem 12. Dezember einen Termin wählte, an dem viele Studenten bereits aus ihren Universitätswahlkreisen nach Hause gereist sind.
Oluwole macht Überzeugungsarbeit
Einer, der um jeden Preis wählen gehen will, ist Femi Oluwole. Der studierte Jurist hat seine Karriere erstmal an den Nagel gehängt, um sich als Vollzeit-Aktivist für ein zweites Referendum einzusetzen. So tourt er derzeit durch Londons Straßen, teilt Flugblätter aus, spricht mit potentiellen Wählern. Noch mehr Reichweite bekommt seine Botschaft über Twitter und Instagram, wo Oluwole über 200.000 Follower hat.
"Das, wofür die Leute 2016 gestimmt haben, das werden sie nicht bekommen. Wir haben weniger Kontrolle über unser Land. Wir werden nicht reicher, sondern ärmer. Es sollte alles ganz schnell gehen, aber es kein Ende abzusehen. Wir brauchen eine neue Abstimmung", erzählt er der DW im Wahlkampf.
3,8 Millionen neue Wähler registriert
Doch nicht bei allen stößt sein Engagement auf Gegenliebe. Wegen seiner Überzeugung wurde Oluwole schon in der Kneipe angepöbelt, musste rassistische Kommentare und Drohungen in den sozialen Netzwerken über sich ergehen lassen. Wenn junge Leute wählen gehen wie noch niemals zuvor, dann könnte es klappen mit dem zweiten Referendum, glaubt er.
Über die letzten Zahlen zur Wählerregistrierung kann Oluwole sich freuen: Seit die Wahl für Dezember ausgerufen wurde haben sich 3,8 Millionen neue Wähler registriert. Fast drei Viertel davon sind junge Wähler unter 35 Jahren. Ed Shackle von "Vote For Our Future" sieht das auch als Erfolg seiner Organisation und Arbeit: "Viele dieser Wähler empfinden diese Wahl als historisch und wollen das mit ihrer Stimme auch bezeugen."
2,6 Millionen neue junge Wähler - ihre Stimmen könnten Boris Johnson und den Tories noch gefährlich werden. Wenn die Neuwähler denn tatsächlich auch am 12. Dezember zur Wahl gehen.