Das Grauen der Bilder
20. Juli 2002 "If your pictures are not good enough, you are not close enough" (Robert Capa)
Völlige Stille, brennende Häuser im Blick, das Züngeln der Flammen ganz nah am Ohr. Immer wieder das Surren des Auslösers einer Kamera. Kosovo nach dem Krieg. Es fröstelt einen im Kino, denn man hat das Gefühl selbst am Auslöser zu sein - niemals zuvor war die Perspektive der Fotokamera so nah am Zuschauer. Der Mann hinter der Kamera ist James Nachtwey, seit 20 Jahren Kriegsfotograf u.a. für weltberühmte Agenturen wie Magnum.
Die Welt der Kamera durch Kameras
Ein Trick hat es möglich gemacht, dass sich der Zuschauer in dieser ungewöhnlichen Perspektive wiederfindet: Eine Mikrokamera wurde an der Kamera Nachtweys installiert. Der Regisseur des außergewöhnlichen Dokumentarfilms "War Photographer", Christian Frei, hat das so gewollt: "Die Mikrokamera war der 'turning point', warum ich den Film überhaupt mit Nachtwey machen konnte", erklärt der Schweizer Dokumentarfilmer im DW-Interview. Denn den berühmten Kriegsfotografen filmisch begleiten zu dürfen, hätten auch schon andere versucht. Stets hatte Nachtwey abgelehnt, zu gefährlich für das Filmteam, zu hinderlich für seine Arbeit.
Dieses Mal lehnte er nicht ab. Frei durfte Nachtwey auf seiner ungewöhnlichen Reise begleiten. Eine 96-minütige Zeit- und Weltreise durch die Slums von Bangladesch, den Gazastreifen und den Kosovo. Ein Film über die Entstehungsprozesse seiner Bilder, aber auch über Nachtwey ist entstanden - über die Motivation, seine Ängste und seinen Alltag als Kriegsreporter. "Wenn wir es nicht tun, wer dann?", fragt Nachtwey in die Film-Kamera zurück. Und Frei gelingt es, das Klischee aufzubrechen, bei Kriegsfotografen und -reportern handele es sich um eine besonders abgebrühte Spezies Mensch.
"Ich bin stolz auf diesen Film", meint Frei. Zu Recht: Die Art und Weise wie "War Photographer" umgesetzt wurde, brachte viele internationale Preise ein. Auf 20 Filmfestivals wurde er bisher gezeigt und war 2002 sogar für den Oscar nominiert, als erster Schweizer Dokumentarfilm überhaupt. Christian Frei ist seither ständig auf der Durchreise zur nächsten Vorstellung.
Der Philosophiestudent im Grauen
Stets hat man das Gefühl, wissen zu wollen, wer dieser Mann, der mitten im Geschehen steht und doch nur wie ein Schatten erscheint, eigentlich ist. Ein Gefühl, das der Filmemacher Frei erfolgreich an den Zuschauer weitergibt. Nachtwey sei ein Mann, "der wie ein Philosophiestudent durchs Grauen schreitet", meint Frei. Aber sein Weg sei einsam: 20 Jahre in der Rolle des Beobachters von Kriegsschauplätzen haben ihn auch zum Einzelgänger gemacht. Ein Eindruck, den Frei zusammen mit Nachtweys Journalisten-Kollegen, die im Film zu Wort kommen, teilt.
Frei erarbeitete sich über den Drehraum 1999 bis 2000 eine respektvolle Beziehung und Vertrauen zu Nachtwey. Das bedeutete auch, dabei sein in Krieg und Grauen - für Frei eine einschneidende Erfahrung: "Der Krieg ist anders als man es aus den üblichen Kriegsreportagen kennt. Es ist oft banaler und trotzdem sehr gefährlich." Doch das Filmteam war vorbereitet, mit Fortbildungskursen über Landminen zum Beispiel. In den brenzligsten Situationen aber wurde die Mikrokamera eingesetzt. "Doch zu 90 Prozent waren wir dabei."
Emotionale Nachbeben
Nur auf eines war Frei nicht vorbereitet: auf die Erinnerungen, die im Nachhinein am Schneidetisch aufkamen. Gerüche und Anblicke bei der Entdeckung eines Massengrabes in Bosnien beispielsweise. "Dieser Tag ging an die Grenzen von uns allen. Als ich das im Schnittraum sah, musste ich abbrechen", schildert Frei. Aber der Schnitt gelang: "Ich mache einen Film zum Hingucken, und nicht zum Weglaufen."
Doch eines haben Frei und Nachtwey gemeinsam: Sie wollen den Blick fürs Kriegsgeschehen schärfen. Jedoch nicht durch die schockierendsten Bilder. "Es kann auch der Anblick einer weinenden Mutter sein", stellt Frei zu Recht zur Diskussion. Wohin James Nachtwey mit den Bildern und Gerüchen im Kopf hingeht, das bleibe sein Geheimnis.
Autorin: Petra Tabeling
Redaktion: Michael Borgers