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Literatur

Die Wahrheit hinter der Wahrheit?

Laura Döing
16. Oktober 2016

Er hat den Milliardenbetrüger Jürgen Schneider (Bild) und Kreml-Flieger Mathias Rust vertreten. Jetzt will Anwalt Yitzhak Goldfine in seinem Buch neue Details enthüllen: Belastbare Fakten oder Verschwörungstheorien?

Jürgen Schneider Immobilienspekulant
Immobilienspekulant Jürgen Schneider 1997 vor GerichtBild: picture alliance/dpa/A.Dedert

"Das passt doch niemals alles in ein Leben", muss man unwillkürlich denken, wenn man "Die Wahrheit hinter der Wahrheit" liest. In kurzen Episoden präsentiert der israelische Strafverteidiger darin zehn Fälle aus 50 Berufsjahren. Yitzhak Goldfine, 80 Jahre, blickt auf ein bewegtes Leben zurück - er war einer der schillerndsten Strafverteidiger in Deutschland. Die Wochenzeitung "Die Zeit" schrieb einmal, seine Mandanten seien "fast alle in irgendeiner Weise grandios aufgestiegen und ebenso grandios abgestürzt".

So wurde Goldfine etwa vom Bauunternehmer Utz Jürgen Schneider engagiert, der später wegen Betrugs in Milliardenhöhe verurteilt wurde. Und von Mathias Rust, der berühmt wurde, als er über den Eisernen Vorhang zum Kreml flog. Goldfine vertrat ihn nach seiner Haftentlassung aus Russland, als Rust eine Frau lebensgefährlich mit einem Messer verletzt hatte. Fälle wie diese rollt Goldfine in seinem Buch nun wieder auf - und verspricht, neue Fakten zu enthüllen, die "Die Wahrheit hinter der Wahrheit" zeigen sollen.

Das Buch ist im Europa Verlag erschienenBild: Europa Verlag

Goldfine schreibt, er habe über 300 Strafverfahren in aller Welt geführt. Glaubt man seinem Buch, hatte Goldfine den Berufsalltag eines Geheimagenten: Kurz vor der Wiedervereinigung Deutschlands habe er drei Seiten einer russischen Gefängnis-Akte im Socken von Moskau nach Deutschland geschmuggelt, er habe mit der Yakuza, der japanischen Mafia, verhandelt und anonyme Anrufe erhalten – mit Drohungen und brisanten Hinweisen, schreibt er.

"Manchmal werde ich gefragt: 'Kommst du dir vor wie ein kleiner 007, ein Agent?'", erzählt er im Gespräch. Seine Antwort laute dann: "Eigentlich nicht. Das ist eben meine Methode zu arbeiten. Das sind keine Sachen, die nur in unserer Fantasie entstehen. Das passiert – und öfter als man glaubt."

Mit Andreas Baader in der Kneipe

Seine "Methode" sei dabei das Mittenrein, das Unmittelbare: "Ich verlasse mich in den meisten Fällen nicht auf das, was in den Akten steht. Ich nehme manchmal ein Zentimetermaß und gehe dahin, wo angeblich der Mord geschah und wiederhole die Messungen und schaue, ob sie richtig sind. Das ist eine kleinteilige Arbeit, aber sie ist wichtig, weil genau das manchmal entscheidend ist." Auch das Privatleben Goldfines ist nicht minder bewegt - so liest es sich auf jeden Fall in seinem Buch: 1936 wurde er als Sohn eines jüdischen Einwanderers und der Enkelin eines Oberrabbiners in Haifa geboren. Im Kurhotel seiner Eltern sei "die gesamte Elite der jüdischen Gesellschaft" zu Gast gewesen. Sein Vater habe zwei Kibbuzim gegründet, die "zu Urzellen des Staates Israel wurden", wie Goldfine schreibt. Das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden und die israelische Geschichte begleiten Goldfine auch immer wieder bei seinen Fällen – und in seinem Buch.

Deutsche Verwandtschaft führte den jungen Goldfine 1961 nach Deutschland. Während seines Studiums in Frankfurt am Main, erzählt er, habe er Deutsch gelernt. Später promovierte er in vergleichender Rechtswissenschaft und verfasste Standardwerke über das jüdische und israelische Recht. Weil er zwar in Deutschland promoviert, seine Staatsexamen aber in Israel abgelegt hat, ist er als Rechtsanwalt in Deutschland nicht zugelassen. Vor Gericht könne er "nur gemeinsam mit einem zugelassenen deutschen Anwalt und mit ausdrücklicher Zustimmung des Richters auftreten", schreibt Goldfine.

In seiner Zeit in Deutschland habe er mit Fritz Bauer gesprochen, dem Juristen, dem es mit zu verdanken ist, dass die Auschwitz-Prozesse zustande kamen. Er habe dem Philosophen und Soziologen Theodor W. Adorno eine "Encyclopedia Britannica" aufgeschwatzt und sich mit dem Mitbegründer der Terrororganisation RAF, Andreas Baader, in einer Kneipe unterhalten - über schnelle Autos und schöne Frauen.

Thriller-Autor als Ghostwriter

Peter Mathews (links) und Yitzhak Goldfine (rechts)Bild: Europa Verlag

Heute lebt Goldfine in der Nähe von Tel Aviv. Das Buch "Verbrechen" von Strafverteidiger Ferdinand von Schirach habe Goldfine inspiriert, seine eigenen Fälle aufzuschreiben. "Ich habe ihm einen Brief geschickt. Ich habe gesagt: 'Was halten Sie davon, mein Ghostwriter zu sein?' Wahrscheinlich hat ihn das schwer beleidigt. Er war inzwischen schon berühmt und ein Ghostwriter für einen Nobody zu sein - er hat vermutlich gedacht, ich sei verrückt." Zwei Jahre hat Goldfine an "Die Wahrheit hinter der Wahrheit" gearbeitet - nicht zusammen mit Ferdinand von Schirach, sondern mit Peter Mathews, einem erfahrenen Thriller-Autor. Mathews hat Goldfines Leben zu einem Buch gemacht.

In diesem Buch betitelt sich Goldfine gerne als "Mann für die hoffnungslosen Fälle". Für die hat Goldfine oft die Medien genutzt - auch, um daraus Profit zu schlagen, was ihm den Spitznamen "Goldfinger" einbrachte: "Ich habe Fälle gehabt, an denen ich ein und sogar zwei oder drei Jahre gearbeitet habe. Ich habe das manchmal dadurch finanziert, dass ich die Rechte von meinen Mandanten bekommen habe, die Geschichte an die Medien zu verkaufen." Wie viel Honorar Goldfine dafür genau bekommen hat, möchte er im Gespräch nicht sagen. Doch habe er von einem anderen Anwalt im Schneider-Prozess gehört, der an den Exklusiv-Geschichten gut verdient habe: "Da sprach man von einer Million. Bei mir waren das weniger."

Wenn man die Aneinanderreihung von Fälle bekannter Klienten in seinem Buch verfolgt, mag man es kaum glauben, aber ein Promi-Faktor habe ihn bei der Auswahl seiner Mandanten nie geleitet, betont Goldfine - eher die Faszination: 1996 verteidigte er beispielsweise die Fluchthelferin des "Heidemörders", des dreifachen Frauenmörders Thomas Holst: "Dieser gutaussehende, begabte Mann - hübsch, blond, groß, Konzertpianist, Vorsitzender einer Tierschutzorganisation. Nach außen ein tadelloser Mann, in den sich jede zweite Frau verliebt. Dass der nachts herumläuft und Frauen umbringt, das ist doch wahnsinnig interessant."

"Die Wahrheit hinter der Wahrheit" will neue Fakten enthüllen

Die Cessna, mit der Mathias Rust 1987 nach Moskau flogBild: picture-alliance/dpa

In ihrem Buch schreiben Goldfine und Mathews Fälle weiter - und werfen dabei die ein oder andere steile These auf, die noch zu weiteren Verfahren führen könnte. Im Fall des Kreml-Fliegers Mathias Rust, so Goldfine, könne er zum Beispiel erst jetzt die "Wahrheit hinter der Wahrheit" äußern: Rust hatte 1987 mit einer Cessna den Eisernen Vorhang überflogen und war auf dem Roten Platz vor dem Kreml in Moskau gelandet. Goldfine vertrat ihn in einem späteren Verfahren, kurz vor dem Mauerfall - Rust hatte eine Frau mit einem Messer angegriffen. Goldfine, so schreibt er, schmuggelte in seinem Socken Papiere aus Russland. Die sollten belegen, dass Rust im russischen Gefängnis ein "Wahrheitsserum" verabreicht bekommen habe, das zu aggressiven Schüben führen könne. Ein Anrufer habe ihn jedoch gebeten, solch brisante Informationen kurz vor der Wiedervereinigung zurückzuhalten.

Auch einen der größten deutschen Wirtschaftsskandale schreiben Goldfine und Mathews fort: Goldfine beschreibt, dass der 1997 wegen Betrugs in Milliardenhöhe verurteilte "Baulöwe" Utz Jürgen Schneider (Artikelbild) über 400 Millionen Dollar beiseite geschafft haben soll - nach Kuba. Das habe ihm 2014 ein anonymer Anrufer mitgeteilt. Schneider hatte Goldfine 1995 als Anwalt engagiert und schuldet dem Rechtsbeistand - wenn man dessen Angaben Glauben schenkt - noch ein stattliches Honorar. Goldfines "Rache" scheint nun das Kapitel über Schneider in seinem Buch zu sein - er verpasste ihm den Titel "Buena Vista Money Club".

War Schneider Kohls geheimer Spender?

Doch damit nicht genug: Goldfine behauptet weiter, Schneider habe ihm verraten, einer der geheimen Spender in der CDU-Parteispendenaffäre gewesen zu sein. Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl hatte 1999 zugegeben, rund zwei Millionen Mark angenommen zu haben. Diese Summe tauchte allerdings in keinem Spendenbericht auf. Wer die Spender waren, hat Kohl nie enthüllt.

Helmut Kohl im Juni 2000 vor dem Bundestagsuntersuchungsausschuss Bild: picture-alliance/dpa/P. Förster

"Alles Unfug" behauptet Schneider im Gespräch mit Investigativ-Reporter Hans Leyendecker von der Süddeutschen Zeitung (SZ). Gegenüber der SZ erklärte ein Vertrauter Kohls zudem, "Kohl lege sogar Wert darauf, dass er mit Schneider nichts zu tun gehabt habe".

Die Krux an "Die Wahrheit hinter der Wahrheit": Goldfines Geschichten lesen sich wie fesselnde Agentenstücke à la Bond oder John le Carré. Allerdings verzichtet das Buch auf tatsächliche Belege. Die Autoren schreiben von "Dokumenten", "vertrauenswürdigen Quellen", "anonymen Anrufern" und sogar einem Lügendetektor-Test - doch teilweise schwärzen sie Informationen. Um die Privatsphäre der Beteiligten zu schützen, heißt es, wollen sie diese Unterlagen keiner breiten Öffentlichkeit zugänglich machen. Spannende, neue Fakten oder eine Ansammlung kruder Verschwörungstheorien? Im Interview betont Goldfine: "Ich habe eine Deckung für alles, was ich sage. Ich habe alle Beweise bei mir. In meinem Archiv stehen allein 20 Kartons mit Akten aus dem Fall Schneider." Jedoch: Ohne die gesehen zu haben, lässt "Die Wahrheit hinter der Wahrheit" den Leser zwar gut unterhalten zurück - aber ratlos.

Yitzhak Goldfine/PeterMathews: "Die Wahrheit hinter der Wahrheit. Die Goldfine-Akten", München (Europa Verlag) 2016, 232 Seiten, ISBN: 978-3-95890-075-2

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