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Politik

Die Wehrmacht und der Holocaust

7. Mai 2020

Die SS war schlimm, die Wehrmacht sauber? Die Legende von der unschuldigen Wehrmacht war eine der Lebenslügen Deutschlands. 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist es damit vorbei, sagt der Historiker Hannes Heer.

60 Jahre Danach Kriegsverbrechen
Bild: picture-alliance/dpa

DW: Lange Zeit gab es in Deutschland den Mythos der sauberen Wehrmacht, nach dem Motto "Opa war in Ordnung". Warum konnte sich dieses Narrativ so lange halten?

Hannes Heer: Millionen Wehrmachtssoldaten waren an den Verbrechen der Wehrmacht beteiligt - im Unterschied zu den etwa 250.000 SS-Leuten, die für den Holocaust verantwortlich waren. Mit dem Gedenken an den Holocaust hat es in Deutschland funktioniert. Aber mit den zehn Millionen Soldaten an der Ostfront, die mehr als 26 Millionen Sowjets umgebracht haben, war der Widerstand in der Gesellschaft sehr viel größer. Jeder hatte drei, vier, fünf Verwandte, die daran beteiligt waren.

Der zweite Punkt war der Kalte Krieg. Die US-Amerikaner brauchten dringend die Bundesrepublik als sicheren Bündnispartner an der Grenze gegen den Ostblock. Der Oberbefehlshaber über die US-amerikanischen Besatzungstruppen in Deutschland und spätere US-Präsident Dwight David Eisenhower hatte öffentlich einen Eid geschworen, dass man zwischen der Clique von Hitler und der Wehrmacht unterscheiden müsse und dass die deutschen Soldaten ihre Ehre nicht verloren hätten. Diese Statements haben dazu geführt, dass die Generäle der Wehrmacht aus den alliierten Kriegsgefängnissen entlassen wurden. Dieses Bild wurde auch jahrelang mit der Bundeswehr erhalten, die mit ehemaligen Offizieren und Generälen der Wehrmacht aufgebaut wurde.

Das Massaker von Odessa

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Der Schriftsteller Heinrich Heinrich Böll zum Beispiel hat 1948 einen radikalen Antikriegsroman geschrieben, der an der Ostfront spielt, der aber nicht gedruckt wurde. Der Roman "Der Überläufer" von Siegfried Lenz von 1952 durfte nicht erscheinen. Erich Maria Remarque musste "Zeit zu leben und Zeit zu sterben" völlig umarbeiten und es dann einem Lektor überlassen. Filme sind umsynchronisiert worden, zum Beispiel "Casablanca": Da wurde der Widerstandskämpfer zum norwegischen Atomphysiker. Es ist alles gemacht worden, um so zu tun, als ob die Wehrmacht nur ihre patriotische Pflicht erfüllt hätte, und dafür mit Millionen Opfern auch hat bezahlen müssen.

Sie hatten ja auch einen Anteil daran, dass der Mythos der sauberen Wehrmacht entzaubert wurde - als Leiter der Wehrmachtsausstellung vor 25 Jahren. Zum ersten Mal wurden dort die Kriegsverbrechen der regulären deutschen Streitkräfte während des Zweiten Weltkriegs für eine breite Öffentlichkeit dokumentiert. Wie blicken Sie heute auf diese Ausstellung zurück?

Der deutsche Historiker Hannes HeerBild: privat

Das ist ein Meilenstein gewesen. Es hat zwar Historiker gegeben, die das Schweigen schon vorher mit ihren Untersuchungen gebrochen haben: Manfred Messerschmidt 1969 über die Nazifizierung der Wehrmacht und Christian Streit 1978 über die Ermordung von 3,5 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen. Aber unsere Ausstellung hat sehr viel mehr bewirkt, weil sie an drei Fallbeispielen gezeigt hat, wie das tagtäglich vor sich gegangen ist. Also den täglichen Alltag des Mordens, mit Fotos, die Wehrmachtssoldaten selber an den Tatorten geknipst haben.

Wir hatten keine anderen Bilder in der Ausstellung. Die Täter, Mitwisser und Zeugen haben selbst auf den Fotografien hinterlassen, was passiert ist. Ursprünglich war diese Ausstellung ja nur für ein halbes Jahr im Hamburger Institut für Sozialforschung gedacht. Nach und nach wurde das Material immer mehr. Und die Ausstellung wurde angefordert von allen möglichen Stellen und Institutionen. So wurde die Wehrmachtsausstellung zur Wanderausstellung, was zunächst so nicht geplant war.

Sie haben drei Fallbeispiele ausgestellt. Welche waren das?

Zum einen Weißrussland, der Teil der Sowjetunion, der am meisten gelitten hat, am meisten Opfer zählte. Dann Serbien, Militärbezirk Belgrad. Das dritte Fallbeispiel war die 6. Armee. Die kollektive Biografie eines Wehrmachtverbandes, der in Stalingrad geschlagen wurde und den Mythos der "Opfer-Armee" bis weit in die Siebzigerjahre trug. An diesen drei Fallbeispielen konnte man wirklich vom Generalstab bis herunter zur Mannschaftsebene nicht nur etwas über die Taten, sondern auch etwas über die Mentalität der Truppe erfahren.

Die Fotografien haben dazu geführt, dass unzählige Menschen zum Teil mit Fotoalben in die Ausstellung gekommen sind, um ihre Angehörigen, die nicht zurückgekommen sind, zu suchen. Oder um die Angehörigen, die Männer zu finden, die nicht erzählt hatten, was damals geschehen war. Die große Geschichte hat sich auf einmal in eine riesengroße Familiengeschichte verwandelt. Es hat die Menschen erreicht, weil die Ausstellung auch so provokativ war, dass die Menschen anfingen zu reden, kritisch diskutiert haben. Das ist vielleicht einer der entscheidenden Punkte der Ausstellung gewesen: Dass das Schweigen, was so metertief war, gebrochen wurde.

Besucher der Wehrmachtsausstellung 1999 in SaarbrückenBild: Imago Images/Becker & Bredel

Ihre drei Fallbeispiele in der Wehrmachtsausstellung waren alle im Osten. Gab es Unterschiede in der Kriegsführung der Wehrmacht im Westen und Osten?

Absolut. Der Feldzug im Osten hat ja auch den Titel Vernichtungskrieg getragen. Gegen Frankreich hat es keinen Vernichtungskrieg gegeben, gegen Dänemark und auch gegen Norwegen nicht. Da ging es darum, bestimmte Einflusszonen zu gewinnen oder auch zu annektieren. Aber dort, wo die Gegner slawische Völker waren, da hat es eine Form gegeben von Krieg, den es vorher nicht gab: den Vernichtungskrieg.

Da ging es nicht darum, etwas zu erobern oder Einflusssphären zu schaffen, sondern nur darum, diese Gesellschaften zu zerschlagen. Die Sowjetunion war das Zentrum dieser slawischen Staaten, deren Völker als Untermenschen bezeichnet wurden. Das andere Argument war, dass es sich oft um eine jüdische Regierung handelte. Deshalb ist dort ein Modell entwickelt worden, das auf die Vernichtung der Bevölkerung abzielte.

Stichwort jüdische Regierung - inwieweit war die Wehrmacht auch in den Holocaust eingebunden?

Noch vor Kriegsbeginn war die Parole, dass der 'jüdische Bolschewismus' zerschlagen werden muss - und desgleichen die kleineren slawischen Staaten, die unter 'jüdischem Einfluss' standen. Das war die Achse der Propaganda. Vor dem Beginn des Feldzugs gab es einen Befehl, der die Juden betraf: 'Alle Kommissare, alle Angehörigen der früheren Sowjetregierung und der Administration und die Juden sind Feinde des deutschen Volkes und gehören ausgerottet'.

Mit der Wehrmacht marschierten dann drei Einsatzgruppen der SS und des Sicherheitsdienstes ein. Diese Einsatzgruppen wurden von der Wehrmacht sehr kameradschaftlich aufgenommen und waren dieser logistisch unterstellt. Sie mussten den entsprechenden Offizieren auch vorab über ihre geplanten Aktionen berichten, damit keine militärischen Aktionen behindert wurden. Sie hatten den Auftrag - lange vor der Verfolgung der Juden in der Phase der sogenannten Endlösung - zuerst einmal die jüdische Intelligenz zu erschießen, dann alle männlichen Juden und später auch alle Frauen und Kinder. Dies ist der Holocaust auf freiem Feld gewesen - nicht die Ermordung in den Lagern mit Gas, sondern auf offenem Feld mit Karabinern und Maschinenpistolen. Auf diese Weise sind drei Millionen Juden in der Sowjetunion (inkl. des vormals annektierten Ostpolens, Anm. der Red.) ermordet worden.

Dieser Holocaust taucht in unserem Gedenken nicht auf. In unserem Gedenken sind die europäischen Juden, die Deportationen und die Gaskammern im besetzten Polen. Ich nenne das die asymmetrische Behandlung des Krieges: Der einen wird gedacht, weil eine geringere Zahl von Tätern verwickelt ist; der anderen wird nicht gedacht, weil da Millionen Verwandte beteiligt waren. Schlussendlich ist es ein trostloses, bisher nicht endgültig geklärtes Thema der staatlichen und privaten Erinnerung.

Proteste von Neonazis in der Innenstadt von München am 30.November 2002Bild: AP

Bräuchte es nicht gerade deswegen heute, 75 Jahre nach Kriegsende, noch einmal eine Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg? Gerade wenn man sich das gesellschaftliche und politische Klima in Deutschland anschaut?

Wir brauchen in der Tat eine dritte Wehrmachtsausstellung. Jetzt müsste es eigentlich möglich sein, nochmal eine dritte Ausstellung zu organisieren. Die müsste dann aber auch eine Dauerausstellung sein, wie die Gedenkstätte für die ermordeten Juden in Berlin. Dann könnte man sagen: Ja, wir haben einen festen Ort, wo man mit Schulklassen hingehen kann und wo man auch selber hingehen kann.  Auch vor dem Hintergrund, dass Neonazis heute in Deutschland offen mit den Symbolen des Nationalsozialismus auftreten. Und es eine Partei im Bundestag gibt, die sagt, man könne 'stolz auf die die deutsche Wehrmacht' sein und die NS-Zeit sei ein 'Vogelschiss in der Geschichte'.

Es müsste das Bewusstsein her: Ja, unsere Vorfahren sind auch im Osten gewesen, und die werden an diesen Verbrechen beteiligt gewesen sein. Das würde so im Familiengedächtnis verankert werden. Und es wäre auch notwendig gegenüber den Opfern, deren bis heute nicht gedacht wird. Allein die Hälfte der sowjetischen Kriegsgefangenen ist ermordet worden. Man muss diese Schuld und dieses Schuldeingeständnis dokumentieren! Erst dann kann so etwas wie eine Verständigung oder eine Versöhnung stattfinden. Bisher gibt es das nicht.

Hannes Heer ist ein deutscher Historiker und war Leiter der Wehrmachtsausstellung. Diese war zwischen 1995 bis 1999 in 34 Städten zu sehen und fand etwa 900.000 Besucher. Für diese Leistung wurde Hannes Heer 1997 stellvertretend für das Organisationsteam der Ausstellung mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille ausgezeichnet.

Die Fragen stellte Oliver Pieper.

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