1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Die Weißhelme: Syriens moralisches Kraftzentrum

9. Oktober 2016

Die Mitglieder des Syrischen Zivilschutzes, die so genannten Weißhelme, haben vielen Menschen das Leben gerettet. Darum wurde ihnen der Alternative Nobelpreis zuerkannt. Doch die Gruppe steht auch in der Kritik.

Syrien Weißhelme in Aleppo
Bild: Reuters/A. Ismail

Wie viele Menschen sie auch gerettet haben mögen, fest steht: Es sind viele, sehr viele. Die Mitarbeiter des Syrischen Zivilschutzes, besser bekannt als "Weißhelme", sprechen von über 55.000 Menschen, die ihrer Organisation ihr Leben verdanken. Das US-Außenministerium ist zurückhaltender und spricht von 40.000 Geretteten, der Sender Al-Jazeera verbreitet eine Zahl von "über 24.000". Wie hoch die Zahl letztlich auch sein mag: Ohne die Arbeit der Weißhelme wären in Syrien noch mehr Menschen ums Leben gekommen: zerquetscht, verbrannt oder eingesperrt in den Trümmern ihrer aus der Luft beschossenen Häuser. Dieses Engagement hat den Weißhelmen vor wenigen Wochen den Alternativen Nobelpreis eingebracht - in Anerkennung einer Arbeit, bei der die Weißhelme auch ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen.

"Ich habe tote Kinder ausgegraben, ganze Familien", berichtete einer der Weißhelme im August 2016 dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel". "Ich habe Menschen verrückt werden sehen, habe einen weinenden Vater abgewiesen, der mich vor seinem eingestürzten Haus anflehte, zuerst nach seiner Familie zu suchen. Wir müssen uns ja als erstes um jene kümmern, die noch eine Überlebenschance haben. Später fanden wir die Frau, die drei Kinder - alle tot."

Knapp 3000 Freiwillige haben sich der Organisation seit ihrer Gründung im Herbst 2014 angeschlossen. 130 von ihnen haben seitdem bei Rettungsaktionen ihr Leben verloren. Die ohnehin riskante Arbeit ist in den letzten Monaten offenbar noch riskanter geworden. Im Juli habe er seinen besten Freund verloren, berichtet Ismail Abdullah, so der Name des Weißhelms, dem "Spiegel". Der Freund habe sich zu einem gerade bombardierten Haus begeben. "Das Flugzeug kam zurück, um die Retter auch noch zu töten."

Nach dem Angriff. Ein Weißhelm-Mitglied inspiziert ein beschossenes Haus Bild: Getty Images/AFP/S. Al-Doumy

Verbindungen zur Opposition

Ob es sich in diesem Fall um einen syrischen oder einen russischen Jet handelt, lässt Ismael Abdullah offen. Generell aber bezichtigt er beide Regierungen, die in Damaskus ebenso wie die in Moskau, für zahllose Angriffe verantwortlich zu sein. Seine Aussagen decken sich mit denen anderer Organisationen, etwa der in London ansässigen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Die der gemäßigten Opposition verbundene, aber als verlässlich geltende Beobachtungsstelle berichtet seit Monaten von schweren Bombenangriffen auf Aleppo und andere von den Rebellen gehaltene Städte.

Die Weißhelme sind der syrischen Opposition verbunden, zumindest deren gemäßigter Fraktion. Doch nach Jahren des Krieges haben sich die Grenzen zwischen gemäßigten und radikalen oder gar extremistischen Gruppen in Teilen aufgelöst. Wie unsicher die Abgrenzung geworden ist, zeigt sich etwa im Zögern westlicher Staaten, Oppositionsgruppen mit Waffen auszurüsten – zu groß ist die Sorge, sie könnten radikalen Islamisten in die Hände fallen. Deren Ziele unterscheiden sich von denen der säkularen Opposition gründlich: Während diese vor allem den Sturz Assads herbeizuführen versuchen, geht es den radikalen Islamisten darum, Syrien nach dem Ende des Krieges in einen Gottesstaat zu verwandeln.

Hilfe für die Schwächsten der Schwachen: Szene aus AleppoBild: Reuters/S. Kitaz

Vorwurf der Parteilichkeit?

Die Gegnerschaft zum Assad-Regime hat den Weißhelmen den Vorwurf eingebracht, keine reine Hilfsorganisation, sondern auch ein Propagandainstrument der Anti-Assad-Koalition, vor allem der USA, zu sein. Tatsächlich erhielten die Weißhelme von den Vereinigten Staaten eine Unterstützung von 23 Millionen US-Dollar. Das liberale Internetmagazin "Alternet" hält den Weißhelmen zudem enge Verbindungen zu Assad-Gegnern in Washingtoner Politkreisen vor. Dadurch hätten sie ihre Eigenschaft als unparteiische Hilfsorganisation verloren. "Es gibt einen politischen Prozess, nämlich den Übergang. Wir wollen diesen Übergang wieder stark machen", zitiert das Magazin den in den USA lebenden vermögenden syrischen Manager Ayman Asfari, der die Weißhelme im laufenden Jahr mit 180.000 US-Dollar unterstützt hat. Dadurch hätten diese ihre Unabhängigkeit verloren, kritisieren der Politologe José Ciro Martínez und der Journalist Brent Eng in einem Beitrag für die Zeitschrift "Foreign Policy". Die Unterstützung "hat eine neue, ungesunde Form der Abhängigkeit in den von den Rebellen kontrollierten Gebieten wie etwa Daraa gebracht. Statt dem Assad-Regime sind die Zivilisten in Daraa nun den Vereinigten Staaten, Jordanien und (der profitorientierten Hilfsorganisation) Chemonics unterworfen."

Abschied: Die Weißhelme bei der Trauerzeremonie um einen getöteten KameradenBild: Getty Images/AFP/T. Mohammed

Unabhängig ist im Syrienkrieg aber längst kein Akteur mehr. Das Land ist Schauplatz eines Bürger- ebenso wie eines Stellvertreterkriegs, ausgefochten von regionalen und internationalen Akteuren. In diesem Krieg geraten auch Organisationen wie die Weißhelme fast unausweichlich auf eine der Seiten. Sie, die ihre Einsätze oft filmen, sind längst zu einer auch von internationalen Medien ernstgenommenen Informationsquelle geworden - einer schnellen zudem. Das kann dem Assad-Regime und den Russen, die die Angriffe in Aleppo und anderswo verantworten, nicht recht sein. Entsprechend hart werden die Weißhelme aus dieser Richtung kritisiert. Doch auch diese Kritik ist Teil eines zynischen Spiels. Wer bei Rettungseinsätzen sein Leben verliert, der dürfte in den seltensten Fällen im Sinne haben, durch seinen Tod dem Ruf des Gegners zu schaden. Teil der Wahrheit ist zudem, dass den Weißhelmen in den vom Assad-Regime kontrollierten Gebieten Rettungsaktionen nicht erlaubt werden.

 

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika
Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen