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Politik

Die Welt als Wille und Vorstellung

10. Oktober 2017

In Frankfurt beschwor Macron die Kraft der Kultur. Manche seiner Äußerungen ließen den studierten Philosophen erkennen - der überzeugt ist, dass die Wirklichkeit nicht so übermächtig ist, wie es bisweilen scheint.

Deutschland Frankfurter Buchmesse 2017 Eröffnung Macron
Bild: Getty Images/AFP/L. Marin

Ein Lied zur rechten Zeit kann im Zweifel Einiges bewirken. Wiegenlieder machen Kleinkindern Mut, und was ist Beethovens "Ode an die Freude", wenn nicht das Wiegenlied Europas, zumindest der europäischen Union? So ungefähr mögen es sich die Anhänger der Bewegung "Puls of Europe" gedacht haben, die dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron vor dessen Diskussion mit Studenten an der Frankfurter Universität mit Beethovens strahlendem Evergreen vielleicht auch ein wenig Mut machen wollten. Vielleicht auch vor den womöglich skeptisch-allzu skeptischen Fragen der jungen Zuhörerschaft?

Die Frage wird ohne Antwort bleiben, denn Macron traf mit einer Stunde Verspätung ein - für die Diskussion am Ende der Veranstaltung blieb darum kaum Zeit. So war es an dem deutsch-französischen Parlamentarier Daniel Cohn-Bendit und dem französischen Soziologen und Arabisten Gilles Kepel, mit dem französischen Präsidenten über Europa zu sprechen und die Herausforderungen, denen der Kontinent sich gegenübersieht: Finanzkrise, Terrorismus, Extremismus, Migration, und, allen  voran, der geheime, wohl niemals erschöpfend zu definierende Sinn dessen, was sich europäisches Projekt nennt, kurz auch EU genannt.

"Wen kümmert's, wer spricht?"

"Kultur ist ein Bindemittel", erklärte der französische Präsident in Frankfurt, wo er heute mit Angela Merkel die Buchmesse eröffnet hat. Einen Satz wie diesen hat man in Abwandlungen bereits des Öfteren gehört, im Grunde sogar unendlich oft. "Wen kümmert's, wer spricht, hat jemand gesagt, wen kümmert's?" Dieses Wort Samuel Becketts zog vor inzwischen einer ganzen Reihe von Jahren der französische Philosophie-Star Michel Foucault heran, um damit seine These zu illustrieren, dass die menschliche Sprache einen so gewaltigen Schatz an Formeln, Redensarten und vorgestanzten Sentenzen biete, dass sie, die Sprache, das eigentliche Sinnreservoir darstelle - und eben nicht der Mensch, der sich dieser Sprache nur bedient.

Die Leiter der Philosophen: Frankreich präsentiert sich auf der Frankfurter BuchmesseBild: DW/S. Peschel

Dass das immer und ausnahmslos so stimmt, daran kann man zweifeln, wenn der französische Präsident das Wort ergreift. Gewiss: "Kultur ist ein Bindemittel", das ist kein sonderlich origineller Satz. Beeindruckender ist dieser: "Affronter la réalité du monde nous fera retrouver l´espérance" - "Die Realität anzugehen wird uns die Hoffnung wiederfinden lassen." Diesen Satz eröffnet Macrons Büchlein "Révolution", veröffentlicht im November des vergangenen Jahres, während des gerade anlaufenden Präsidentschaftswahlkampfs, aus dem er im Mai als Sieger hervorging.

Ein Satz, knapp, dicht und prägnant. Ein Satz von poetischer Qualität - und zugleich von philosophischem Anspruch, und zwar keinem geringeren als dem, es mit der Welt als ganzer aufzunehmen. Sich nicht kleinkriegen zu lassen, anzugehen gegen die facts on the ground, die Macht oder gar Übermacht des Realen, die womöglich - wer weiß - weniger mächtig ist als es zunächst den Anschein hat. Der Satz ist ein Aufruf, sich nicht kleinkriegen zu lassen von der Welt - und darum vielleicht auch eine kleine Unverschämtheit.

Kleine Unverschämtheiten

Eine Unverschämtheit, weil die Welt eben doch mächtig ist, ein stahlhartes Gehäuse, wie es seit knapp hundert Jahren heißt, eine Welt geschmiedet von den unerbittlichen Zwängen der Bürokratie, der Gremien, Verbände, Apparate.

Eine kleine Unverschämtheit ist der Satz auch darum, weil sich Macron in wenig schmeichelhaften Worten über die französischen Arbeitslosen geäußert hat, die draußen vor der Tür stehen und nur mit Schwierigkeiten Einlass in dieses Gehäuse finden.

Mit den Mitteln der Kultur

Das Wort als Gnade: Jean-Paul SartreBild: picture-alliance/Selva/Leemage

Und doch relativiert ein Satz wie jener erste der "Révolution" auch andere, weniger glänzende, wie etwa jenen über die Kultur. Denn ihm ließ Macron in Frankfurt weitere Sätze folgen, mit denen er seinen Anspruch bekräftigte, die Realität nicht einfach Realität sein zu lassen, sondern sie zu überwinden, und zwar mit den Mitteln der Kultur. "Jeder junge Mensch, egal, wo er geboren ist, muss Zugang zur französischen Literatur, zu Goethe und Beethoven haben", erklärte Macron in Frankfurt. "Das ist Exzellenz!"

Kinder gehören gefördert, gab Macron zu verstehen. Aber man muss sie auch fordern. Vor allem müssen sie sich selber fordern. Denn es reicht nicht, Zugang zur Kultur einfach nur zu haben - man muss ihn auch nutzen. Und da kommt es auf das einzelne Kind, den einzelnen Jugendlichen selbst an. Macron, der studierte Philosoph, könnte in Frankfurt an Sartre und dessen Buch "Les mots", "Die Wörter", gedacht haben. Darin beschreibt der Vordenker des Existenzialismus die befreiende und beflügelnde Kraft, die er den Worten, den Büchern, verdankte.

Und diese kulturelle Kraft, erklärte Macron in Frankfurt, soll nun auch im Kampf gegen Dschihadismus und Extremismus zum Einsatz kommen. "Ein gut ausgebildeter Jugendlicher wendet sich nicht dem IS zu", erklärte er, sehr souverän den Umstand übergehend, dass die Dschihad-Organisation "Islamischer Staat" sehr wohl bestens ausgebildete Leute in ihren Reihen hat - jene IT-Techniker etwa, die die giftige Ideologie der Terrorbande auf ihre weltweite virtuelle Reise schicken.

Die Welt umkreisen, auch gedanklich: der Globus des Jules VerneBild: Bibliothèques d'Amiens, Métropole, Collection Jules Vernes

"Wir brauchen Visionen"

Aber vielleicht sind die Ausgebildeten unter den Dschihadisten auch nur die Ausnahme von der Regel. Womöglich illustriert auch die nun einsetzende kulturelle Offensive gegen sie Macrons Credo, dass man sich der Wirklichkeit allzu voreilig nicht beugen sollte. Der Kampf gegen den Extremismus - vielleicht hat er in der Kultur ja tatsächlich seinen besten Verbündeten. Auch das ist eine jener leicht als allzu unwahrscheinlich verschrienen Annahmen, die Macron testen - und wenn es gut geht - widerlegen will.

"Wir brauchen Visionen", erklärte er in Frankfurt, unbeeindruckt offenbar von den Zehntausenden, die in Paris und anderen französischen Städten zeitgleich gegen seine Arbeitsmarktpolitik auf die Straße gingen. Sie, die Straße, hat Macht. Noch mehr Kraft aber, gab Macron zu verstehen, bietet die Welt, wenn man sie als Ausdruck von Wille und Vorstellung versteht.

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika