Jüdische Orthodoxie
10. März 2013Die Ultra-Orthodoxie in Israel wirkt fremd. Einblicke in diese verschlossene und unbekannte Welt bieten gelegentlich Berichte in den Medien. In diese Lücke stößt nun das Buch "Das Kind der Talibanfrau" von Yair Nehorai vor, das sich mit der dunklen Seite der Ultra-Orthodoxie in Israel beschäftigt, genauer: mit einer kleinen Splittergruppe frommer Extremisten, die am äußersten Rand der Ultra-Orthodoxie entstanden ist.
Fremde Welt
Im Mittelpunkt des Buches steht ein Junge, dessen Mutter einer Gruppe von Frauen angehört, die in Israel die "Talibanfrauen" genannt wird. Vor etwa sieben Jahren tauchte diese bizarre Sekte erstmals in den israelischen Medien auf. Es handelt sich um Frauen, die in der Regel nicht der traditionellen religiösen Gesellschaft entstammen, sondern meist erst kürzlich zur Religion gefunden haben. Sie haben damit begonnen, die vielen Vorschriften und Verbote, die das ultra-orthodoxe Judentum kennzeichnen, zu radikalisieren und zu überspitzen.
Verschleiert und verhüllt
Am deutlichsten zeigt sich das bei der Interpretation der Kleidervorschriften. Orthodoxe jüdische Frauen sind angehalten, sich züchtig und bescheiden zu kleiden - mit langen Röcken, undurchsichtigen Strümpfen und hochgeschlossenen langärmeligen Blusen. Verheiratete Frauen tragen Kopfbedeckungen oder sogar Perücken, um die eigenen Haare zu verdecken.
Die Frauen der Sekte nun fügten diesen Kleidungsstücken weitere hinzu: sie trugen mehrere Röcke übereinander, sie bedeckten ihre Haare nicht mit einem, sondern mit mehreren Kopftüchern und begannen schließlich, Handschuhe überzustreifen und auch ihr Gesicht zu verhüllen. Auch ihre Töchter wurden, wenn sie mit ihren Müttern auf die Straße gingen, unter mehreren Lagen Stoff verborgen.
Die extremistische Auslegung der religiösen Vorschriften beschränkte sich jedoch nicht auf die Kleidung. Auch bei der Erziehung der Kinder standen die Unterwerfung unter religiöse Regeln und Speisevorschriften und der unbedingte Gehorsam der Kinder im Mittelpunkt. Im Jahr 2008 wurde in Beit Shemesh, einem ultra-orthodoxen Vorort von Jerusalem, eine Frau verhaftet, die ihre zwölf Kinder systematisch misshandelt und ausgehungert hatte. Eines ihrer Kinder war so schwer verletzt, dass es im Koma lag. Die Mutter, deren Mann sich ins Ausland abgesetzt hatte, als die Vorwürfe bekannt wurden, wurde zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Inzwischen ist sie wieder auf freiem Fuß.
Jugend in einer Sekte
Das "Kind der Talibanfrau", der Ich-Erzähler des Romans von Yair Nehorai, entstammt einer solchen Familie. Die Figur ist fiktional, aber ihre Geschichte beruht auf Tatsachen, die der Autor gut kennt, weil er seit Jahren als Rechtsanwalt in Jerusalem religiöse und ultra-orthodoxe Straftäter vertritt. Auf diese Art kam er auch in Kontakt mit dem Sohn einer "Talibanfrau", wie er in dem Vorwort zu seinem Buch schreibt. "Als ich ihn zum ersten Mal traf, war er müde, blass und verängstigt. Er wirkte wie ein Blatt im Wind, auf der Suche nach Vergebung. Er wollte wissen, was über ihn geredet, was geschrieben und veröffentlicht wurde. Er stand unter Schock und wurde unablässig von seinen Gedanken gequält."
Der Roman selbst ist in Form eines poetischen Selbstgesprächs geschrieben, ein gequälter innerer Monolog, der neun Jahre umspannt. Als Beobachter, Opfer und Komplize erlebt der Junge die Veränderung seiner Mutter, ihre zunehmende Radikalisierung: "Mamas Kopfbedeckung ist größer geworden, kann ihre Stirn nicht mehr sehen oder ihre Ohren, nur noch Augen Nase und Mund in einem schwarzen Rahmen."
Ein Leben in der Isolation
Der Junge wird in ein Internat nach Jerusalem geschickt. Er ist hin- und hergerissen zwischen Auflehnung und Unterwerfung, gemartert von widersprüchlichen Gefühlen: Hass auf die Mutter und zugleich Bewunderung, Liebe, Verwirrung und Einsamkeit, Neugier auf die Welt, Sehnsucht nach religiöser Vollkommenheit und der Wunsch nach Freiheit. Die Sätze seiner tagebuchähnlichen Aufzeichnungen werden länger, je älter er wird. Doch das Leben wird auch für den Jugendlichen nicht besser. Seine Mutter hat inzwischen Anhängerinnen um sich geschart, religiöse Frauen, denen sie beibringt, sich den Kopf zu scheren, das Gesicht zu verhüllen und ihren strengen Regeln zu folgen. Die Kinder werden dabei immer mehr zur Nebensache, vernachlässigt und missachtet. Es gibt, soviel vorweg, kein Happy End in diesem Buch.
Mutig, verstörend und lesenswert
"Das Kind der Talibanfrau" ist ein verstörendes und trauriges Buch. Es erlaubt einen Blick in das Innere eines im Namen der Religion misshandelten Kindes. Zugleich lässt es jedoch keinerlei Rückschlüsse auf das Leben in einer "normalen" ultra-orthodoxen Familie in Israel zu. Der beschriebene Fall bleibt ein Einzelfall, wie er in einer jüdischen Sekte, aber ebenso in jeder anderen sektiererischen Gruppe vorkommen mag.
Das Problem des Buches: es ist anspruchsvoll und setzt, um die Handlung einordnen zu können, zumindest eine gewisse Kenntnis der jüdischen Religion voraus. Ein erklärender Artikel der früheren Spiegel-Korrespondentin in Jerusalem, Juliane von Mittelstädt, ergänzt daher den Roman. "Das Kind der Talibanfrau" ist ein mutiges, ein interessantes und ein lesenswertes Buch.