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Die Wirtschaftsweisen korrigieren sich

23. Juni 2020

Die Weltwirtschaft taumelt, manches deutsche Unternehmen rechnet 2020 mit Verlusten in dreistelliger Millionenhöhe. Die Lage ist ernster als gedacht, sagt nun auch der Sachverständigenrat. Aus Berlin Sabine Kinkartz.

Wird dauern, bis die Produktion wieder auf vollen Touren läuft: Hier bei Porsche in  Stuttgart
Bild: picture-alliance/dpa/M. Murat

Die Corona-Pandemie ist noch lange nicht vorbei, das zeigen die Rückschläge, den die Regionen um Gütersloh in Nordrhein-Westfalen und im benachbarten Kreis Warendorf gerade verkraften müssen. Eben erst waren die Auflagen gelockert worden, nun wird nach dem massiven Infektionsausbruch im Fleischwarenkonzern Toennies ein regionaler Lockdown verhängt und es bleibt abzuwarten, ob es damit getan ist. Das trifft auch die Wirtschaft in der Region empfindlich.

Leben und wirtschaften in Corona-Zeiten, das heißt, mit einer großen Unsicherheit umgehen zu müssen - und das wohl noch für eine längere Zeit. Das zeigt der neue Infektionsherd nur zu gut und davor warnt auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung - ein Gremium von Wirtschaftswissenschaftlern, das die Bundesregierung berät - in seinem jüngsten Gutachten.

Konjunktur soll um 6,5 Prozent schrumpfen

"Sollte es nicht gelingen, die Anzahl der Neuinfektionen etwa durch Social Distancing gering zu halten, den Lockerungskurs fortzusetzen und die Unsicherheit der Unternehmen und Haushalte zu senken, ist mit einer deutlich länger anhaltenden Schwächephase zu rechnen", so die Wissenschaftler, die aktuell davon ausgehen, dass die Konjunktur in diesem Jahr um 6,5 Prozent einbrechen wird. In der EU sollen es 8,5 Prozent Minus sein.

Im Kreis Gütersloh wird wieder alles abgesperrt Bild: DW/M. Soric

Die Wirtschaftsweisen, wie sie auch genannt werden, korrigieren damit ihre Ende März abgegebene Prognose deutlich nach unten und sprechen nun vom "voraussichtlich stärksten Einbruch der deutschen Wirtschaft seit Bestehen der Bundesrepublik". Das deckt sich mit den Zahlen, der Wirtschaftsverbände in Deutschland. Die Industrieproduktion ist auf den tiefsten Stand seit 20 Jahren gefallen. Der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) rechnet damit, dass manches Unternehmen im laufenden Jahr Verluste in zwei- bis dreistelliger Millionenhöhe machen.

Prognosen waren selten schwieriger

War der Sachverständigenrat im März zu optimistisch? "Nein", erwidert Lars Feld, der Vorsitzende des Gremiums. Im März hätten noch zu wenige harte Daten vorgelegen, der Rat habe daher lediglich Szenarien aufgrund verschiedener Annahmen entwickeln können. Eine dieser Annahmen war, dass der Lockdown lediglich fünf Wochen andauern würde. "Das hatte sich dann ja schnell erledigt", so Feld.

In der Corona-Pandemie stehen auch die Ökonomen und ihre Pressesprecherin nur virtuell Rede und AntwortBild: SVR-Wirtschaft.de

Zudem habe sich die Corona-Pandemie in anderen Staaten weitaus dramatischer entwickelt als angenommen. "Das außenwirtschaftliche Umfeld hat sich deutlich verschlechtert." Die USA würden im laufenden Jahr mit einem Konjunktureinbruch von 6,1 Prozent kämpfen. "Das ist die schlimmste Zahl, die die USA in der Nachkriegsgeschichte aufzuweisen hat." China werde ein leichtes Plus von 0,3 Prozent erreichen. In der EU sei mit Einbrüchen von elf Prozent in Frankreich, 11,5 Prozent in Spanien und 11,8 Prozent in Italien zu rechnen. 

Deutsche Exporte sind katastrophal eingebrochen

Das führt nicht nur dazu, dass die Nachfrage nach deutschen Waren im Ausland ausbleibt, sondern auch zu gestörten Lieferketten. Allein im verarbeitenden Gewerbe komme ein Viertel der Zulieferungen aus dem Ausland, betont die Ökonomin Veronika Grimm, die erst kürzlich in den sechsköpfigen Sachverständigenrat aufgerückt ist. "Die Erholung in Europa ist also sehr wichtig für die Erholung der deutschen Industrie."

Ihr Kollege Volker Wieland hofft, dass die deutsche Industrie die Krise auch als Chance begreift, um dringend nötige Strukturveränderungen vorzunehmen. Die Nachfrage nach deutschen Maschinen habe sich in den USA und Asien schon vor der Krise abgeschwächt. Die Unternehmen müssten mehr Kraft in die Digitalisierung stecken. "Nur wer in der Lage ist, die Anlagen digital vor Ort zu verkaufen und zu warten, ist zukünftig im Vorteil. Da kann man nicht sagen, das wird schon. So werden wir nicht vorankommen."

Auch die EU-Kommission plant ein milliardenschweres KonjunkturpaketBild: picture-alliance/dpa/EC/E. Ansotte

Milliarden für die Konjunktur

Um die Industrie, aber auch andere Wirtschaftszweige zu stützen, hat die Bundesregierung ein gewaltiges Konjunkturpaket auf den Weg gebracht. 130 Milliarden Euro werden bereitgestellt. Unter anderem wird für ein halbes Jahr die Mehrwertsteuer von 19 auf 16 Prozent gesenkt, es gibt Kaufprämien für Elektroautos, Finanzspritzen für Familien und Kommunen. Die Regierungsparteien CDU/CSU und SPD hoffen, auf diese Weise den Konsum anzukurbeln.

Das ist auch dringend nötig. Vor allem die Tourismusbranche und das Gastgewerbe kämpfen ums Überleben. Aus dem Gaststättenverband Dehoga ist zu hören, dass Restaurants und Hotels die Mehrwertsteuersenkung gar nicht an die Kunden weitergeben könnten, weil das Geld im Unternehmen gebraucht werde.

Das Geld bleibt im Unternehmen

Der Sachverständigenrat findet das nicht weiter dramatisch und geht sogar davon aus, dass die Hälfte aller Firmen entsprechend handeln werden. "Das ist ein Konjunkturimpuls für die Unternehmen, das erhöht den Gewinn und stärkt die Solvenz", urteilt Lars Feld. Zumal eine temporäre Preisumstellung gewaltige Kosten produziere. "Das hört sich nur in der Theorie immer so schön an."

Kritik übt der Sachverständigenrat auch daran, dass es Unternehmen nur in diesem Jahr möglich sein soll, ihre Verluste mit den Gewinnen von 2019 steuerlich zu verrechnen. Vier Milliarden Euro sind dafür vorgesehen. Viele Unternehmen würden aber auch 2021 noch absehbar Verluste machen.

Konjunkturverlauf wie ein großes V?

Zwar gehen die Ökonomen im kommenden Jahr von einem Wachstum von 4,9 Prozent aus, die vor der Krise in Deutschland vorhandene Wirtschaftskraft werde aber nicht vor Anfang 2022 wieder zu erreichen sein. Das aber auch nur, wenn keine zweite Infektionswelle mit einem flächendeckenden Lockdown dazwischenkommt.

Im Großen und Ganzen sind die Wirtschaftsweisen mit dem Konjunkturpaket aber zufrieden. "Es hat mehr Licht als Schatten", urteilt der Vorsitzende Lars Feld. Die dafür notwendige staatliche Neuverschuldung hält der Rat für unabdingbar, auch wenn die Verschuldungsquote, also der Schuldenstand im Verhältnis zur Wirtschaftskraft damit wieder deutlich über die in der EU erlaubten 60 Prozent auf absehbar über 75 Prozent steigen wird.

Doch wie und wann sollen die Schulden zurückgezahlt werden? Keinesfalls zu früh, so lautet der Ratschlag der Ökonomen und auch nicht über Steuererhöhungen. Allein davon zu reden, wäre "fatal" urteilt der Ökonom Volker Wieland. Das würde wirken wie "ein Hammer" und "aufkeimende Hoffnungen auf Wachstum ersticken".

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