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Theater

"Die Zensur ist allgegenwärtig"

30. Mai 2017

Nach Durchsuchungen beim renommierten russischen Theaterregisseur Kirill Serebrennikov sieht Schriftsteller Viktor Jerofejew kaum noch Chancen für freie Kunst in Russland. Über die Zensur sprach er im DW-Interview.

Theater Vorhang
Bild: picture-alliance/dpa/Xamax

DW: Viktor Jerofejew, viele glauben, dass der russische Staat nicht nur die Wirtschaft, die Medien und die Wissenschaft kontrolliert, sondern mittlerweile auch die Kunst. Ist mit der jüngsten Durchsuchungen bei Russlands berühmtem Theaterregisseur Kirill Serebrennikov auch das Theater ins Visier geraten?

Viktor Jerofejew: Die Lage ist nebulös. Kaum einer in Russland versteht, was da wirklich los war. Selbst diejenigen, die diese Unverschämtheit veranstaltet haben, wissen nicht wirklich, was sie tun. Dabei wehen heute viele Winde gleichzeitig aus verschiedenen Richtungen. Böse Winde, die immer böser werden, mit jedem halben Jahr. Das Rohr der Zensur bricht mal hier mal da und überschüttet alles mit seiner Brühe. Diese Rohrbrüche sind genau kalkulliert. In den 1990er-Jahren konnte man sich als Schriftsteller mit jedem Stück, mit jedem Kunstwerk an sein Publikum wenden. Heute muss man fürchten, als russophober Künstler beschimpft zu werden oder die Gefühle von irgendwelchen Gruppen zu verletzen. Die Zensur ist allgegenwärtig und nicht greifbar zugleich.

Waren also die Durchsuchungen in Serebrennikovs Theater "Gogol-Center” ein Showprozess, um andere Künstler einzuschüchtern?

Schriftsteller Viktor JerofejewBild: DW

Ja natürlich! Das war eine Episode im Bürgerkrieg, der in Russland gerade geführt wird. Ein Krieg zwischen dem Russland, das ein Teil Europas sein will, und dem Russland, das nur sich selbst gehören will und nach Prinzipien des Isolationismus, des Nationalismus und einer äußerst archaischen Philosophie lebt. Und dieses archaische Russland, das vom Kreml regiert wird, versucht immer mal wieder seine Zähne zu zeigen. Die Polizeiaktion gegen Serebrennikov war sehr gefährlich, denn sie zeigt, dass bald jede künstlerische Suche als kriminell abgestempelt werden kann.

In Russland gibt es ein Gesetz, das Gefühle von bestimmten Gruppen schützen soll, vor allem die religiösen Gefühle. Damit kann man natürlich viele Kunstwerke verbieten. Dabei gehen die meisten von den "religiös Beleidigten” nicht einmal selbst ins Theater. Ist dieses Gesetz also nur ein Feigenblatt der Zensur?

In Russland gibt es jede Menge Feigenblätter. Sie können herausgehen und sie überall einsammeln. Unser Land ist nicht nur ein Potemkinsches Dorf, sondern auch ein Garten voller Feigenblätter. Es geht hier nicht darum, was du tust, sondern wofür man dich benutzt. Für Repressalien, für Bestrafung, für was auch immer, aber sicher nicht für das, was du selbst willst, sondern für das, was andere wollen. Das ist das Schlimmste. Du bist nicht du selbst. Du bist ein Objekt des Staatsinteresses. Manchmal ein sehr kleines, ein mikroskopisches Objekt. Wenn du in der U-Bahn zum Beispiel eine Mütze aufhebst, die jemand hat fallen lassen, können die anderen dich beschuldigen, diese Mütze gestohlen zu haben. Oder wenn du als Regisseur eine Schauspielerin auf der Bühne eine halbe Minute nackt herumlaufen lässt, können die anderen dich beschuldigen, die Gefühle aller anständigen Menschen dieser Welt beleidigt zu haben.

Sie sprechen vom Bürgerkrieg. Ein starker Ausdruck. Gibt es also in Russland gar keinen Platz mehr für die künstlerische Freiheit? Oder ist es vielleicht umgekehrt so, dass ein Talent sich unter genau solchen Widrigkeiten am besten entfaltet?

Nein. Man muss natürlich nicht irgendwelche Horrorgeschichten erleben, um Bücher schreiben oder Stücke inszenieren zu können. Noch erleben wir einen kalten Bürgerkrieg. So wie es einen Kalten Krieg nach dem "heißen” Zweiten Weltkrieg gab. Trotzdem ist das ein Krieg und er ist hart. Wobei so kalt ist dieser Krieg gar nicht, wenn man bedenkt, dass der Oppositionspolitiker Nemzow sein Leben verlieren musste. Das war auch Teil dieses Kriegs. Es geht aber mittlerweile nicht mehr darum, ob ein Künstler Talent hat oder nicht. Sondern mittlerweile kann jeder bestraft werden, allein dafür, dass er in Russland lebt.

So wie Sie? Sie sind ein bekannter Schriftsteller. Sie schreiben über Russland in Russland. Spüren Sie selbst, das die "Schraubenzwingen” der Zensur fester gezogen werden?

Natürlich spüre ich das. Ich merke, dass die Zeit da ist, wo man sein Talent vor bösen Winden schützen muss. Ich spiele nicht nach den Regeln des Staats. Aber ich muss schon wissen, was ich hier nicht machen darf. Die Zeit ist gekommen, in der man sich über solche traurigen Dinge Gedanken machen muss.

Viktor Jerofejew (Jahrgang 1947) ist russischer Schriftsteller. Der Sohn eines hochrangigen russischen Diplomaten wuchs teilweise in Paris auf. Deshalb wurden viele seiner Veröffentlichungen ins Französische übersetzt. Jerofejew tritt auch im russischen Fernsehen mit einer eigenen Sendung auf dem Kanal "Kultura" auf.

Das Gespräch führte Juri Rescheto.

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