1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Die Corona-Krise der Vorzeige-EU-Staaten

Uta Steinwehr
10. Januar 2021

Viele Staaten im westlichen und nördlichen Europa haben das Image, sehr gut organisiert zu sein. Doch beim Management der Corona-Pandemie hakt es bei einigen gewaltig. Ein Überblick.

Coronavirus, Belgien, Brüssel: Intensivstation im Krankenhaus
Mit den Kapazitäten am Ende: eine Intensivstation in der belgischen Hauptstadt BrüsselBild: Getty Images/AFP/K. Triboillard

Deutschland

In der ersten Welle galt die Bundesrepublik international als Klassenprimus in der Eindämmung der Pandemie. Diesen Status hat Deutschland längst verspielt.

Als Bundeskanzlerin Angela Merkel Ende September davor warnte, Weihnachten könne es täglich 19.200 Neuinfektionen geben, wurde sie belächelt.

Die Chefs der Bundesländer rangen sich Mitte Oktober nur zu einem "Lockdown light" durch. Merkel hatte für striktere Maßnahmen plädiert. Schon Anfang November meldete das Robert-Koch-Institut in Deutschland erstmals mehr als 20.000 Neuinfektionen an einem Tag. Mitte Dezember und Anfang Januar mussten die Regeln jeweils deutschlandweit verschärft werden.

Die Ministerpräsidenten der beiden derzeit am stärksten betroffenen Bundesländer Thüringen und Sachsen haben nun Fehler eingestanden. "Die Kanzlerin hatte Recht, und ich hatte Unrecht", sagte Bodo Ramelow in einem Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Sein sächsischer Kollege Michael Kretschmer sagte der Chemnitzer "Freien Presse", in der Rückschau wäre es besser gewesen, das Land deutlich früher herunterzufahren, "auch wenn das bestimmt viel Unverständnis in der Bevölkerung ergeben hätte".

In Deutschland sind die Schulen weiterhin geschlossen - das digitale Lernen klappt nicht immerBild: K. Schmitt/Fotostand/picture alliance

Fehler wurden aber nicht nur im Herbst bei der Reaktion auf steigende Infektionszahlen gemacht, sondern auch bei der Vorbereitung auf diese Situation. Virologen und Mediziner hatten zu Beginn der Pandemie gebetsmühlenartig betont, das Virus habe in der kälteren Jahreszeit leichteres Spiel, es werde eine zweite Welle geben.

Doch statt den Sommer zur Vorbereitung zu nutzen, wurde dieser verschlafen oder verschwendet, kritisieren unter anderem Oppositionspolitiker und Verbände. So hapert es immer noch an der digitalen Ausstattung der Gesundheitsämter und Schulen und es fehlen funktionierende Konzepte, wie in der Pandemie weiterhin unterrichtet werden kann. Deutschland wirkt in vielerlei Hinsicht wie überrumpelt von der zweiten Welle.

Dänemark

Auch Dänemark machte zu Beginn der Pandemie eine gute Figur. Die überwältigende Mehrheit der Dänen - 95 Prozent der Befragten - bescheinigte ihrer Regierung, einen guten Job in der Pandemiebekämpfung zu machen, fand das Pew Research Center im Sommer heraus.

Doch dann kam die Sache mit den Nerzen. Die possierlichen Tiere werden wegen ihres Fells in Dänemark massenhaft in Farmen gehalten. Bei einigen wurde eine mutierte Version des Coronavirus SARS-CoV-2 nachgewiesen. Aus Sorge, diese Virusversion könnte auf den Menschen übertragen werden und mögliche Impfstoffe weniger wirksam machen, ordneten die Behörden die Tötung aller Nerze an. Mehr als 15 Millionen Tiere wurden gekeult.

Mittlerweile sorgen die Kadaver für Ärger: Verwesungsgase sorgten dafür, dass die verscharrten Tiere an die Erdoberfläche getrieben wurden. Anwohner befürchten eine Verschmutzung des Trinkwassers. Im Mai sollen die Tiere dort ausgegraben und verbrannt werden.

Aus Sorge vor dem Coronavirus wurden die Nerze in dänischen Farmen vergastBild: Mads Claus Rasmussen/Ritzau Scanpix/REUTERS

Der Skandal hat für Dänemark möglicherweise fatale Folgen, denkt Søren Riis Paludan, Professor am Institut für Biomedizin an der Universität Aarhus. Mitte Dezember sagte er der "Financial Times", die Sache mit den Nerzen habe im November die Pandemiebekämpfung überschattet: "Drei Wochen lang haben wir nicht darüber gesprochen, dass die Infektionszahlen steigen. Der Fokus lag nicht mehr auf der Pandemie, und unter dem Radar stiegen die Zahlen."

Seit Mitte Dezember sind Schulen, Restaurants und die meisten Geschäfte dicht. Vor wenigen Tagen verschärfte Dänemark die Einschränkungen erneut.

Niederlande

Die Niederlande setzten lange nicht auf das Tragen von Masken in der Öffentlichkeit, lediglich im Nahverkehr war es Pflicht. Die Regierung zweifelte den Nutzen an. Erst Ende September sprach die Regierung eine Empfehlung aus, sich und andere mit einer Mund-Nasen-Bedeckung zu schützen. Seit dem 1. Dezember sind Masken in geschlossenen öffentlichen Räumen Pflicht. Dabei empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sie bereits seit Juni als Mittel in der Pandemiebekämpfung.

Starke Kritik gab es an einer unklaren Impfstrategie der Regierung. "Chaotisch", "verwirrend" und "peinlich" sind die Etiketten, die Opposition oder Ärzte vergeben. Die Niederlande waren das letzte Land in der EU, das mit dem Impfen begonnen hat. Erst am 6. Januar legten sie los - zehn Tage später als Deutschland und andere Staaten. Dabei lagerte der Impfstoff längst im Land.

Dass die Niederlande mit einigen Strategien gezögert haben, mag überraschen, wenn man bedenkt, dass die Krankenhäuser schon während der ersten Welle so überlastet waren, dass COVID-19-Patienten zur Behandlung nach Deutschland gebracht werden mussten.

Belgien

Zugegeben, Belgien hatte schon vor der Corona-Pandemie ein angeknackstes Image, das dem Klischee der gut organisierten westlichen Nationen widerspricht. Politisch ist Belgien ein schweres Pflaster: Koalitionsverhandlungen dauern hier gerne bis zu eineinhalb Jahre.

Auch mit dem Coronavirus hat das Land, dessen Hauptstadt auch Hauptsitz der EU ist, schwer zu kämpfen. "Wir stehen wirklich kurz vor dem Tsunami", sagte Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke bereits Mitte Oktober. Die Krankenhäuser waren völlig überlastet, Patienten wurden in Nachbarländer verlegt, infiziertes Gesundheitspersonal musste weiterarbeiten.

Belgiens Gesundheitssystem war im Herbst überfordert - Deutschland nahm COVID-Patienten aufBild: Francisco Seco/AP/picture alliance

Zeitweise hatte Belgien nach Angaben der EU-Gesundheitsagentur ECDC gemessen an der Einwohnerzahl die meisten Neuinfektionen in der EU. Den Daten zufolge lag die 14-Tages-Inzidenz Ende Oktober in der Spitze bei rund 1774 auf 100.000 Einwohner.

Inzwischen hat sich die Lage wegen harter Maßnahmen etwas entspannt.

Schweden

Lange Zeit ging Schweden in Europa einen durchaus umstrittenen Sonderweg. Statt auf Zwangsmaßnahmen setzte das skandinavische Land überwiegend auf Appelle und ein natürliches Infektionsgeschehen, um eine Herdenimmunität zu erreichen. Doch im Herbst stiegen die Infektionszahlen dennoch deutlich an.

In seiner Weihnachtsansprache erklärte König Carl XVI. Gustaf die Strategie seines Landes für gescheitert. "Wir haben eine hohe Zahl an Toten, und das ist furchtbar", sagte das Staatsoberhaupt. Am Freitag verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das der Regierung Befugnisse gibt, wie etwa die Schließung von Geschäften anzuordnen.

Österreich

Vor fast einem Jahr erlangte der Skiort Ischgl traurige Bekanntheit als ein Treiber der Pandemie in Europa. Eine unabhängige Expertenkommission bescheinigte den österreichischen Behörden Fehler und Versagen im Umgang mit dem Ausbruch in dem Ort. Inzwischen sind die Skigebiete in Österreich wieder offen, doch nach dem teils gewaltigen Andrang mussten einige Regionen die Regeln erneut verschärfen.

Österreicher dürfen wieder auf die Piste - Ski-Touristen aus anderen Ländern scheitern meist an den QuarantäneregelnBild: Alex Halada/Getty Images/AFP

In Österreich kriselt es. An Massentests Anfang Dezember hatten nicht viele Menschen Interesse. Außerdem waren sie begleitet von technischen Pannen. Kanzler Sebastian Kurz wurde heftig kritisiert, als er Migranten vorwarf, im Sommer das Virus ins Land getragen zu haben. Die Zahlen widerlegten das. Und nun läuft auch in Österreich der Impfstart sehr holprig, Impfdosen liegen ungenutzt in Lagern. Rücktrittsforderungen an Gesundheitsminister Rudolf Anschober werden laut.

Frankreich

Frankreich verzeichnet nach Großbritannien in Europa laut den Daten der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore die zweitmeisten Corona-Infektionen. Die Ausbreitung des Virus konnte nur mit harten Maßnahmen eingedämmt werden. Dazu gehören nächtliche Ausgangssperren und ein sehr kleiner Bewegungsradius. Wegen Überlastung mussten im Frühjahr COVID-19-Patienten nach Deutschland verlegt werden, auch im Herbst geschah dies vorsorglich.

Beim langsamen Impfstart warfen Regionalpolitiker der Regierung in Paris Versagen vor. Sie fühlten sich außerdem bei der Planung nicht eingebunden. "Wir sind zur weltweiten Lachnummer geworden", sagte Michaël Rochoy, Allgemeinmediziner im nordfranzösischen Outreau der DW. "Wie kann es nur so langsam vorangehen in einem Land, das ein so gutes flächendeckendes Gesundheitssystem hat?" 

Am Limit - wer auf einer Intensivstation arbeitet, steht wie dieser Mann in Brest seit Monaten unter DauerbelastungBild: Loic Venance/AFP/Getty Images

Die Pandemie wirkt sich auch auf unerwartete Weise aus: Ein Stromanbieter rief die Franzosen zum Stromsparen auf. In Frankreich heizen die meisten Haushalte mit Strom, und der wird nun knapp. Das liege an den kühlen Temperaturen und fehlenden Wartungsarbeiten - die seien pandemiebedingt ausgefallen, so der Energiekonzern.

Doch nicht überall in Europa ruckelt es so stark in der Pandemiebekämpfung: Norwegen und Finnland kommen bisher gut durch die zweite Welle.

Mitarbeit: Lisa Louis, Paris

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen