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PolitikEuropa

Differenzen um Westbalkangipfel in Brüssel

Barbara Wesel
22. Juni 2022

Die Regierungen der EU sind sich einig, der Ukraine den Kandidatenstatus zu gewähren. Doch gestritten wird über die Form des Beitrittsprozesses. Zudem sitzen auch die Westbalkan-Länder auf der Wartebank.

Balkan Gipfeltreffen mit den Staats- und Regierungschefs der westlichen Balkanländer
EU-Erweiterungskommissar Oliver Varhelyi und Albaniens Premierminister Edi Rama beim letzten Westbalkangipfel vor einem JahrBild: Ani Ruci/DW

Das Europaparlament versuchte, den Regierungschefs am Ende noch etwas Argumentationshilfe zu geben. Es veröffentlichte eine Umfrage, wonach sich 58 Prozent der EU-Bürger für einen schnelleren Beitrittsprozess für neue Mitgliedsländer ausgesprochen hätten. Denn wenn auch die Verleihung des Kandidatenstatus an die Ukraine und Moldau im Mittelpunkt des Gipfeltreffens steht, so verweisen einige Mitgliedsländer nebenbei gleichzeitig darauf, das könne "15 bis 20 Jahre dauern", wie der französische Europaminister Clément Beaune zuletzt erklärte. Was die anstehende Einigung in Brüssel zu einem überwiegend symbolischen Akt machen würde.

Der Elefant im Raum ist der westliche Balkan

Zuletzt hatte sich noch ein Sonder-Drama um den vorgeschalteten Westbalkangipfel abgezeichnet. Bei diesem Treffen soll es um Perspektiven für die Länder gehen, die teilweise seit Jahren auf der Wartebank sitzen. Albanien und Nord-Mazedonien sind bereits Kandidaten, aber der Start der Verhandlungen ist blockiert. Mit Serbien und Montenegro haben sie zwar begonnen, stehen aber faktisch still. Und die beiden letzten im Bunde, Bosnien-Herzegowina und Kosovo, sind noch nicht einmal in der Nähe des Kandidatenstatus.

EU-Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyen besuchte alle Westbalkan-Länder - aber die europäische Zukunft bleibt vage Bild: Franc Zhurda/AP Photo/picture alliance

Aus Protest über diesen quasi eingefrorenen Prozess hatte am Dienstag der serbische Präsident Alexander Vucic angekündigt, er und seine Kollegen in Albanien und Nord-Mazedonien wollten das Gipfeltreffen blockieren. Am Ende aber einigte man sich darauf, doch lieber teilzunehmen. Kritiker hatten gegen diese Strategie eingewandt, es lasse wenig Gutes erwarten, wenn die Kandidaten und Anwärter jetzt schon solche Blockadetechniken einsetzen würden. Albaniens Ministerpräsident Edi Rama bestätigte die Teilnahme schließlich auf Twitter:

"Man wird über uns nicht viel hören. Aber wir wollen zu der Idee einer neuen Europäischen politischen Gemeinschaft, die wir unterstützen, gehört werden. Zu einem offenen Balkan, der den Geist Europas voranträgt und zu unserer Geiselhaft durch Bulgarien, die ihn zerstört".

Damit verweist Rama auf das Fortsetzungsdrama um den Beginn der Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nord-Mazedonien. Letzteres ist bereits seit 17 Jahren im Kandidatenstatus und wurde darin quasi eingefroren. Dabei hat das Land seinen Namen geändert, um eine frühere Blockade durch Griechenland zu überwinden, nur um dann von der früheren Regierung in Bulgarien wegen absurd erscheinender Probleme in punkto Geschichte und nationaler Identität erneut ausgebremst zu werden.

Dabei wollte die neue Regierung in Sofia, überwiegend pro-europäisch und fortschrittlich, den Knoten eigentlich durchschlagen. Das jedoch trug mit zum Zerbrechen der Koalition von Ministerpräsident Kiril Petkov bei und führte zu einem Misstrauensvotum im bulgarischen Parlament, das Petkov jetzt verlor und nach dem die Regierungskoalition in Sofia nach nur einem halben Jahr zerbrach. Es sind diese Art Verwicklungen, wegen derer einige Alt-Mitglieder in der EU den Beitrittsprozess bisher immer wieder ausgebremst haben - wenn auch die Skeptiker in den Niederlanden und Dänemark sich jetzt ausdrücklich zur Kandidatur für die Ukraine und Moldau bekannt haben. 

Bundeskanzler Olaf Scholz - hier bei einem Besuch in Nord-Mazedonien - kann den eingefrorenen Beitrittsprozess auch nicht voran bringen Bild: P. Stojanovski/DW

EU braucht eine Lösung für den Westbalkan

Trotzdem müsse es eine Lösung geben, sagt die liberale Europaabgeordnete Sophie In't Veld. "Ich verstehe und teile die Frustration (der Balkanländer)". So sehr sie auch das Signal an die Ukraine begrüße, so sehr erhöhe sich das Risiko für die EU durch die Vernachlässigung des westlichen Balkans. "Wir sind in der Gefahr, diese Leute zu verlieren, wir sehen schon, wie Russland und China dort einen Fuß auf den Boden bekommen und die Herzen und Gemüter beeinflussen". Besonders der zunehmend russlandfreundliche Kurs in Serbien wird in Brüssel mit Unruhe gesehen.

Die Liberale fordert deshalb, wie etwa auch die Grünen im EP, mit den Westbalkanländern einen realistischen Fahrplan innerhalb eines absehbaren Zeitrahmens zu vereinbaren. Man könne doch von Ländern, ob es nun die Ukraine sei oder der westliche Balkan, nicht verlangen, sich zu reformieren, dann aber erst eine Generation später über den möglichen Beitritt abstimmen. Es müsse stattdessen einen integrierten Plan geben, denn Probleme wie Rechtsstaatlichkeit oder Korruptionsbekämpfung ließen sich besser innerhalb der EU lösen als außerhalb, behauptet Sophie In't Veld.

Damit liegt sie nah bei den Forderungen Österreichs, das sich zum Hauptfürsprecher für die Westbalkanländer gemacht hat. Außenminister Alexander Schallenberg hatte ein Non-Paper an die EU-Mitglieder geschickt mit der Forderung nach einem neu gestalteten Beitrittsprozess. Es solle "eine schrittweise Integration geben, ohne das Verfahren selbst zu verändern". Das heißt, Länder sollten in den Bereichen, in denen sie die Kriterien erfüllen, bereits wie EU-Mitglieder behandelt werden. Das könne etwa der Energiesektor sein, aber auch Transport oder Wissenschaft, regte Schallenberg an. Das würde für Beitrittskandidaten auf eine Art "Einsickern" in die EU hinaus laufen. Allerdings müssten alle EU-Mitglieder trotz allem weiter einstimmig über jeden Fortschritt der Kandidaten entscheiden, was den Zweck der Übung schnell unterminieren könnte. 

Beim Kandidatenstatus für die Ukraine ging es ganz schnell - beim Beitritt dagegen sollen alle EU-Regeln gelten Bild: Ludovic Marin/Pool/AP/picture alliance

Einigkeit herrscht bei den EU-Regierungschefs darüber, dass es keinen beschleunigten Beitrittsprozess für die Ukraine und Moldau geben solle. Wie die EU-Kommission bei ihrer Empfehlung in der vorigen Woche erklärt hatte, basiert der Prozess auf weiteren ernsthaften Reformen, darunter Korruptionsbekämpfung sowie Rechtsstaatlichkeit und Justiz, um die Institutionen der Ukraine auf EU-Niveau zu heben.

Diskussionen über eine andere Anbindung an Europa

Die Vorstellung einer alternativen Lösung, wie Frankreichs Präsident Macron sie im Mai erneut vorgetragen hatte, schwebt dabei weiter über den Diskussionen in der EU. Er hatte die alte Idee wiederbelebt, den östlichen Nachbarn eine Anbindung  anzubieten, die einerseits unterhalb eines regelrechten Beitritts liegt und andererseits attraktiv genug ist, um sie fest am Rande der EU zu verankern.  

Eine solche politische Union könne eine echte Mitgliedschaft nicht ersetzen, meint dagegen Tinatin Akhvlediani vom "Center for European Policy Studies". Sie sehe nicht, dass dies für Länder anziehend sein könne, die bereits im Rahmen von Assoziierungsabkommen eng mit der EU zusammenarbeiteten. Es gebe für sie keinen politischen Mehrwert: "Wenn es keinen starken politischen Willen gibt, dann ist da auch kein Ziel", sagt die EU-Expertin. Am Ende sei so ein Angebot nur ein Ausdruck "strategischer Doppeldeutigkeit" und davon solle sich die EU eigentlich befreien.

"Die EU braucht mehr Klarheit, was sie in ihrer Nachbarschaft erreichen will, wie weit sie sich erweitern will und wer die neuen Kandidaten und Mitglieder sein können. Wir brauchen also mehr Klarheit, nicht noch mehr Verwirrung", fordert die Politikwissenschaftlerin. Doch bei diesem Gipfeltreffen wird die EU zunächst der Ukraine und Moldau zwar eine politische Annäherung anbieten, Grundsatzentscheidungen über das Wie und Wann aber erneut in die Zukunft vertagen.