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Löfflers Lektüren

29. August 2010

Auch Mengestus zweiter Roman spielt im Emigrantenmilieu. Mit Ironie und Sarkasmus stellt er die Frage nach dem vermeintlich typischen Flüchtlingsschicksal einmal anders.

Buchcover Dinaw Mengestu: Die Melodie der Luft (Ullstein Verlag)

Dinaw Mengestu, 1978 in Äthiopien geboren, wuchs in den USA auf, studierte Literatur und erhielt viel Lob für seinen ersten Roman, die Immigrantengeschichte "Zum Wiedersehen der Sterne" (2007). Darin erzählt er mit viel melancholischem Witz von der Isolation eines äthiopischen Flüchtlings, der sich als kleiner Gemischtwarenhändler in einem heruntergekommenen Stadtteil von Washington durchschlägt. Der Mann ist ein sanfter, trauriger und erfolgloser Einwanderer ohne Familie und ohne verlässliches Gefühl für die eigene Identität.

Auch Mengestus zweiter Roman, "Die Melodie der Luft", der soeben in deutscher Übersetzung erschienen ist, noch vor dem amerikanischen Original, erzählt von Missverständnissen zwischen verschiedenen Ethnien und Einwanderergruppen, bearbeitet die Migranten-Thematik aber auf ganz eigentümliche Weise. Es geht diesmal um die Herkunfts-Narrative von Flüchtlingen, um deren Plausibilität oder Lügenhaftigkeit. Wie weit werden die Leidens- und Verfolgungsgeschichten von den Migranten selbst nach den klischeehaften Erwartungen von Einwanderungsbehörden zurechtfrisiert? Gehen Migranten ihrer ureigenen individuellen Lebensgeschichten verlustig, weil sie glauben, sie nach den gestanzten Erwartungen der Zufluchtsländer zurechtlügen zu müssen?

Was die Welt von Migranten hören will

Dinaw MengestuBild: Blair Fethers

Was auch immer das individuelle Schicksal des Migranten gewesen sein mag: Ethnische, religiöse oder politische Verfolgung, Vertreibung und Folter muss er seinem Lebenslauf einschreiben, wenn er die Einwanderungsbehörden günstig stimmen will. Der Ich-Erzähler Jonas, von äthiopischen Immigranten-Eltern in Illinois geboren, arbeitet in einem Zentrum für Einwanderer in New York und hilft ungeschickten Migranten dabei, ihre Biografien mit frei erfundenen Terror-Erlebnissen zu dramatisieren.

Haltloser Drifter zwischen den Kulturen

Das Erfinden, das Fiktionalisieren, das Lügen wird ihm zur zweiten Natur. Auch im Privatleben. Er belügt sich selbst über seine Gefühle, belügt seine Frau, die schwarze Anwältin Angela, und seine Umwelt – all dies im klaren Bewusstsein, nur seinen eigenen Untergang zu provozieren und herbeizureden. Man könnte sein zwanghaftes Lügen als Signal für sein haltloses, befremdetes Driften durch eine Kultur interpretieren, in der er sich nicht beheimatet fühlt, während ihm die äthiopische Herkunftskultur seiner Eltern verloren gegangen ist. Das Unglück der Eltern ist ein Erbe, das Jonas nicht abschütteln kann.

Das Ehe-Debakel von Jonas und Angela wird gespiegelt in der unglücklichen Ehe von Jonas’ Eltern, die dreißig Jahre zuvor als Flüchtlinge aus Äthiopien in den USA Fuß zu fassen suchten. Der Sohn wiederholt dreißig Jahre danach die katastrophal verunglückte Hochzeitsreise seiner Eltern und rekonstruiert die Erinnerung an deren Leben, während er die Stationen der damaligen Reise nachfährt.

Mengestus Roman zeigt eindrücklich das Dilemma der zweiten Generation von Einwanderern, die zwischen den Welten driften und das Erfinden und Weitergeben von Geschichten als ihre Überlebensstrategie angenommen haben.


Autorin: Sigrid Löffler
Redaktion: Gabriela Schaaf


Dinaw Mengestu: «Die Melodie der Luft» Roman. Aus dem Amerikanischen von Volker Oldenburg
Ullstein Verlag, Berlin 2010. 320 S., 19,95 €