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Corona und Rassismus befeuern Diskriminierung

11. Mai 2021

Die Pandemie und Rassismus haben Diskriminierungsfälle in Deutschland drastisch nach oben getrieben. In ihrem Jahresbericht meldet die Antidiskriminierungsstelle 78 Prozent mehr Beratungsanfragen. So viel wie nie zuvor.

Symbolbild Antirassismus Deutschland Demonstration
Bild: Ben Kriemann/Geisler-Fotopress/picture alliance

Das Coronavirus stellt Deutschland auf eine harte Belastungsprobe. Längst ist die Pandemie in den Augen vieler Menschen zum Symbol eines administrativen Durcheinanders und politischen Unvermögens mutiert. Während die Bevölkerung zwischen kollektivem Burnout, einer Mischung aus Wut und Verzweiflung sowie der Hoffnung auf baldigem Impferfolg schwankt, legt das Virus gesellschaftliche Probleme nicht nur gnadenlos offen -  es befördert sie sogar.

So im Fall von Diskriminierungen. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes ADS sieht die Pandemie als wesentlichen Antreiber von Benachteiligungen und Ausgrenzungen. Neben dem Rassismus, der in ihrem Jahresbericht für 2020 großen Raum einnimmt. Wie schon in den letzten Jahren.

Außergewöhnlicher Anstieg der Beratungsfälle

Insgesamt lassen die jüngsten Zahlen der Anlaufstelle für Menschen, die unter Diskriminierung leiden, aufhorchen. Der Negativtrend der vergangenen Jahre hat sich rasant beschleunigt – wie von einem Turbolader angetrieben. 2020 stieg die Gesamtzahl aller Anfragen für eine rechtliche Erstberatung im Vergleich zum Vorjahr von 3580 auf 6383 Fälle.

Vor allem die Hilferufe wegen Diskriminierungen "aufgrund der ethnischen Herkunft, beziehungsweise aus rassistischen Gründen" wie es in dem Jahresbericht heißt, nahm mit 2101 Anfragen deutlich zu. Im Jahr 2019 gab es noch 1176 Anfragen.

Einen derart drastischen Anstieg der Beratungsanfragen aufgrund von Rassismus-Erfahrungen hat es noch nie gegeben. "Im Jahr des Terrors von Hanau, der Black-Lives-Matter Proteste und der breiten Rassismus-Debatte in Deutschland gab es einen Anstieg um 79 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Jede dritte Anfrage also, die bei der Antidiskriminierungsstelle einging, bezog sich auf diesen Grund. Es waren Anfragen zu rassistischer Diskriminierung bei der Wohnungssuche, zu rassistischem Mobbing im Job oder bei der Arbeitssuche", sagte der kommissarische Leiter der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Bernhard Franke, bei der Vorstellung der Daten-Entwicklung in Berlin. 

Bernhard Franke, der kommissarischer Leiter Anti-Diskriminierungsstelle des BundesBild: Ingo Heine

Zusätzlich schlug die Pandemie zu. 1904 Mal meldeten sich Menschen bei der Antidiskriminierungsstelle, weil sie sich im Zusammenhang mit Corona aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, ihres Geschlechts, ihrer Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung sowie ihres Alters oder ihrer sexuellen Identität diskriminiert fühlten.

Kinder als "besondere Pandemie-Treiber"

In ihrem Jahresbericht beschreibt die 2006 gegründete Antidiskriminierungsstelle exemplarisch Erlebnisse von Betroffenen: "Franziska S. geht mit ihren zwei Kindern in den Baumarkt. Die Kinder, sieben und neun Jahre alt, können aufgrund der Schutzverordnungen nicht in die Schule. Am Eingang des Baumarkts wird die Mutter darauf hingewiesen, dass sie nur ohne ihre Kinder in das Geschäft dürfe, da es sich bei ihnen um 'besondere Pandemie-Treiber' handele.“

Teilnehmer einer Demonstration in Berlin unter dem Motto "Deutschland hat ein Rassismusproblem"Bild: Christoph Soeder/dpa/picture alliance

Ein weiterer Fall, der sich offenbar vor dem Hintergrund des ursprünglichen Corona-Ausbruchs im chinesischen Wuhan ereignete: "Meike H. erwartet ein Paket. Als der Paketzusteller mit der Lieferung vor ihrer Haustür steht, weigert er sich jedoch plötzlich, ihr das Paket auszuhändigen. Als die deutsch-asiatische Frau auf der Aushändigung besteht, schubst der Zusteller sie mit den Worten 'Sching Schong‘ von sich weg und nimmt das Paket wieder mit.“

Überlastung der telefonischen Beratung

Die Corona-bedingten Fälle, die mit einem Anstieg weiterer Beratungswünsche einherging, überlastete die Antidiskriminierungsstelle zeitweise sogar. "Das führte dazu, dass wir unsere telefonische Beratung wegen der hohen Zahl der Anfragen vorläufig einstellen mussten", erklärte Franke. Ratsuchende können sich derzeit nur über ein Beratungsformular oder schriftlich an die ADS wenden. Als Reaktion darauf plant die ADS die Einrichtung einer Servicestelle mit einem ausgeweiteten, neuen telefonischen Beratungsangebot ab Juli.

Das rapide angestiegene Beratungsbedürfnis hielt auch andere Hilfsorganisationen in Atem. Die Geschäftsführerin des Antidiskriminierungsverbandes Deutschland, Eva Andrades, sagte im DW-Gespräch: "Wir beobachten den Mehrbedarf auch bei unseren Mitgliedsorganisationen." Zum Teil mit der Konsequenz, dass die unabhängigen und zivilgesellschaftlich organisierten Beratungsstellen des Dachverbandes in den Bundesländern, "nicht allen Beratungsanfragen nachgehen konnten."

Immerhin sieht Andrades auch eine positive Botschaft im unerwartet hohen Anstieg an Beratungswünschen. Durch die Proteste gegen Rassismus und der öffentlichen Debatte sei das Thema Diskriminierung sehr viel sichtbar geworden. "In gewisser Weise hat es dadurch einen Schub dafür gegeben, dass mehr Menschen die Beratungen kontaktiert haben. Vielleicht überhaupt erst erfahren haben, dass es ein Gesetz gibt, um sich gegen Rassismus und Diskriminierung zur Wehr zu setzen."

Im Misskredit wegen Corona-Leugnern

An der Spitze der Beratungsersuche stehen Anfragen von Menschen mit einer Behinderung und chronisch Kranker. Ihre Beratungswünsche kletterten auf 41 Prozent der gesamten Hilferufe. Das entspricht 2631 Fällen. Fast eine Verdreifachung im Vergleich zum Vorjahr. Auch hier spielte die Pandemie eine zentrale Rolle.

"Leider wurden die oft nachvollziehbaren Anliegen von Menschen mit Behinderung, die keine Masken tragen konnten, von sogenannten Corona-Leugnern mit teils zweifelhaften medizinischen Attesten in Misskredit gebracht“, erklärte der kommissarische ADS-Leiter Franke. Dies habe dazu geführt, dass Menschen mit Behinderung, "die keine Maske tragen können, pauschal der Zutritt zu Geschäften verwehrt wurde."

Kampf dem Rassismus am Arbeitsplatz 

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Der Anteil der Menschen, die sich an die Antidiskriminierungsstelle wandten, weil sie sich aufgrund ihres Geschlechts benachteiligt sahen, machte 17 Prozent aus. Beratungsanfragen, in denen es um Diskriminierung wegen des Lebensalters ging, lagen bei neun Prozent. Wegen der Religion oder Weltanschauung bei fünf beziehungsweise zwei Prozent und der sexuellen Identität bei vier Prozent. Diskriminierungserfahrungen wurden mit 23 Prozent vornehmlich im Arbeitsleben und mit 40 Prozent beim Zugang zu Gütern und Inanspruchnahme von Dienstleistungen gemeldet.

ADS-Leiter Franke warnte insbesondere, es sei Rassismus, der Menschen ihre Würde nehme, "der unsere Gesellschaft spaltet". Wer Rassismus und Diskriminierung erlebe, wer auch noch die Erfahrung macht, dass sie folgenlos bleibt, "bei dem bröckelt nachvollziehbar das Grundvertrauen auf den Schutz und die Solidarität von Staat und Gesellschaft." Ein starker Diskriminierungsschutz dürfe gerade auch in Zeiten der Pandemie nicht zum Thema zweiter Klasse werden. "Denn er sichert Teilhabe, Begegnung und Augenhöhe und damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt", betonte der kommissarische ADS-Leiter.

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