1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikTunesien

Djerba: Die tödlichen Schüsse vor der Synagoge

Tarak Guizani | Cathrin Schaer
14. Mai 2023

Der Schock sitzt tief nach dem Angriff vor der Synagoge La Ghriba auf der tunesischen Ferieninsel Djerba. In die Betroffenheit mischt sich Angst vor der Zukunft, denn viele Inselbewohner sind vom Tourismus abhängig.

Eine Straße, ein Polizeiauto und ein Mann mit Gewehr bei Nacht
Bild: Hasan Mrad/ZUMA Press Wire/picture alliance

Die jährliche Wallfahrt zur berühmten Synagoge La Ghriba auf der tunesischen Insel Djerba lässt Michael Hanna nie aus. Am vergangenen Dienstag kam er nur knapp mit dem Leben davon. Hanna lebt auf Djerba und gehört der jüdischen Gemeinde dort an.

Tödliches Ende einer Wallfahrt

Einmal im Jahr pilgern Tausende auf die beliebte Ferieninsel in Sichtweite der Küste. Viele von ihnen sind tunesische Juden, die ausgewandert sind und anlässlich der Wallfahrt die Heimat besuchen. Djerba ist bekannt dafür, alle Besucher willkommen zu heißen. Das Fest - ebenso wie die Bevölkerung der gesamten Insel - gilt häufig als Beispiel dafür, wie verschiedene religiöse Gemeinschaften friedlich miteinander leben. In diesem Monat wurden laut der Nachrichtenagentur Tunis Afrique Presse 7000 Besucher erwartet.

Doch in diesem Jahr fand das Fest an seinem letzten Tag ein abruptes Ende, als ein bewaffneter Mann in der Nähe der historischen Synagoge das Feuer eröffnete. Der Sicherheitsmann, der einer Marineeinrichtung auf der Insel angehörte, tötete zunächst einen Kollegen mit einem Schuss in den Kopf, nahm dessen Waffe und Munition an sich und machte sich dann mit einem Quad auf den Weg zur Synagoge, wo er offenbar wahllos auf andere Sicherheitsbedienstete schoss. Die Besucher waren während des Anschlags in der Synagoge eingeschlossen und blieben unverletzt. Das Motiv des Attentäters ist noch unklar.

Nach dem Attentat sichert die Polizei die SynagogeBild: Hasan Mrad/ZUMA Press Wire/picture alliance

"Nur durch ein Wunder überlebt"

Es sei reiner Zufall gewesen, dass Michael Hanna den Anschlag direkt miterlebt hat, sagt er. Seine Frau habe sich schlecht gefühlt und er habe mit ihr das Gebäude verlassen, um sie nach Hause zu bringen. Seine beiden Söhne seien in der Synagoge geblieben. "Ich ging dann zurück, um den restlichen Abend mit meinen Kindern zu verbringen", erzählt Hanna der DW Arabisch. "Doch als ich das Tor erreichte, flogen Kugeln in alle Richtungen. Eine Kugel traf die Bierflasche in meiner Hand", bricht es aus ihm heraus. "Ich dachte, ich würde sterben. Nur durch ein Wunder habe ich überlebt."

Andere hatten weniger Glück. Der Schütze tötete zwei Sicherheitsleute und zwei Männer im Alter von 30 und 42 Jahren, die auf dem Parkplatz standen. Einer der beiden lebte auf der Insel, der andere, sein Cousin, in Frankreich. Sicherheitskräfte vor Ort erwiderten das Feuer und töteten den Angreifer. Insgesamt starben bei dem Anschlag sechs Menschen, einschließlich des Todesschützen. Etwa zehn weitere wurden verletzt.

Sorge um die Sicherheitslage im Land

Hanna weiß, dass er unglaubliches Glück hatte. Er ist besorgt über die allgemeine Sicherheitslage in Tunesien, die sich seiner Meinung nach verschlechtert hat. "Vor 2011 war die Situation deutlich besser", versichert er mit Blick auf die Revolution damals, den Beginn des sogenannten Arabischen Frühlings, als der langjährige Diktator des Landes, Zine el-Abidine Ben Ali, gestürzt wurde. "Das zumindest war einer der positiven Punkte unter Ben Ali."

Zurzeit wird Tunesien von Präsident Kais Saied geführt, der sich zunehmend autokratisch gebärdet. Er löste im März vergangenen Jahres das Parlament auf und lässt mittlerweile politische Gegner verhaften. Tunesien hat außerdem mit einer wirtschaftlichen Krise zu kämpfen, die Saied bislang nicht beenden konnte.

Die Wallfahrt nach Djerba gilt jedes Jahr als Herausforderung für Tunesiens Sicherheitskräfte. Seit im Jahr 2002 ein extremistischer Anschlag auf die Synagoge verübt wurde, gibt es strikte Sicherheitsvorkehrungen für die Wallfahrt. Damals explodierte am Eingang der Synagoge ein Lastwagen und riss 21 Menschen in den Tod, die meisten davon Deutsche. Die Terrorgruppe Al-Kaida bekannte sich zu dem Anschlag.

2002: Der damalige Bundesinnenminister Otto Schily (M.) am Anschlagsort auf DjerbaBild: Fethi Belaid/dpa/picture-alliance

Die jüdische Gemeinde auf Djerba schrumpft

Das tunesische Innenministerium erklärte, es lasse untersuchen, warum es diese Woche "zu diesem heimtückischen und feigen Angriff" kam. Weil die Tat vor der Synagoge und während eines religiösen Festes verübt wurde, gehen einige Beobachter davon aus, dass der Todesschütze gezielt die jüdische Gemeinschaft der Insel angreifen wollte. Auch Angehörige der tunesisch-jüdischen Gemeinde, die jetzt in Frankreich leben, vermuten das.

Die "Jerusalem Post", eine vielgelesene konservative Zeitung mit Sitz in Israel, berichtete nach dem Anschlag, israelische Behörden und die Jewish Agency for Israel, die die Migration der jüdischen Diaspora nach Israel fördert, beobachteten "seit einigen Monaten eine ernsthafte Bedrohung der jüdischen Gemeinde in Djerba". Es gebe einen "geheimen Plan für eine massive Alijah (Rückkehr) aus Tunesien", schrieb die Zeitung, es sei jedoch unklar, ob die Mitglieder der jüdischen Gemeinde nach Israel auswandern wollten.

In einem Hintergrundgespräch mit der DW dementierte ein hochrangiger Mitarbeiter der Jewish Agency in Jerusalem solche Pläne. "Jährlich wandern einige wenige Mitglieder der (tunesisch-jüdischen, d.R.) Gemeinde nach Israel aus", bestätigte der Mitarbeiter. Die Zahlen seien jedoch so gering, weil die Gemeinschaft nicht sehr groß sei. Über die vergangenen Jahre sei die Anzahl der Einwanderer aus Tunesien konstant geblieben, so der Mitarbeiter: "Andere ziehen nach Frankreich oder in die USA oder andere Länder, aber dazu haben wir natürlich keine Zahlen. Wir stellen jedoch fest, dass die Gemeinde kleiner wird."

Die Wallfahrt zur Synagoge La Ghriba ist auch ein Volksfest, auf dem sich durch Auswanderung getrennte Familien treffenBild: Tasnim Nasri/AA/picture alliance

In Tunesien leben heute zwischen 1200 und 1500 Juden, die meisten von ihnen auf Djerba. In den 1940er Jahren bestand die Gemeinde auf der Insel noch aus etwa 5000 Mitgliedern. Doch aufgrund der Spannungen in der Region im Zusammenhang mit der Gründung des Staates Israel begannen viele Juden, das Land zu verlassen. Heute könnte auch die fortdauernde politische und wirtschaftliche Krise in Tunesien ein Anlass sein, über eine Auswanderung nachzudenken, so der Mitarbeiter der Jewish Agency.

"Seit dem Morgen flehen mich meine Kinder an, Tunesien schnell zu verlassen und nach Frankreich zurückzukehren", erzählt Charlie Perez auf dem Balkon seines Hotels. "Aber ich schwöre, ich werde Tunesien nicht verlassen", insistiert der 70-Jährige. Er lebt zweitweise in Tunesien und in Frankreich und lässt die Wallfahrt nach Djerba und ihre Feierlichkeiten nur aus, wenn es nicht anders geht. "Ich frage sie: 'Warum wollt ihr, dass ich gehe?' Es gibt so viele Angriffe, überall auf der Welt. In Tunesien fühle ich mich sicherer als in Tel Aviv."

Tunesiens Präsident Saied: Gleicher Schutz für alle Bürger

Im Januar 2021 wurden Aufnahmen des tunesischen Präsidenten Kais Saied veröffentlicht, in denen er sich im Gespräch mit Demonstranten, die gegen die wirtschaftliche Situation im Land protestierten, angeblich antisemitisch äußerte. Saied selbst stritt ab, solche Äußerungen gemacht zu haben, und die Nachrichtenagentur AP wies darauf hin, dass Saied eine Atemschutzmaske getragen habe und "in der Aufnahme nicht immer vollständig hörbar" gewesen sei.

In einer später veröffentlichten Erklärung betonte das Büro des Präsidenten, Saied habe mit dem Oberrabbiner Tunesiens gesprochen und ihm versichert, dass Tunesiens Juden "die gleiche Fürsorge und den gleichen Schutz des tunesischen Staates wie alle anderen Bürger" genießen.

Wallfahrt: jüdische Pilger wenige Tage vor dem Anschlag in der La Ghriba-SynagogeBild: picture alliance / DeFodi Images

Saied betonte außerdem, dass in Tunesien Religionsfreiheit herrsche und es wichtig sei, zwischen Menschen jüdischen Glaubens und der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern - die er sehr kritisch sehe - zu unterscheiden.

Der Präsident hat sich bislang gegen jede Normalisierung der Beziehungen mit Israel ausgesprochen. Dennoch reisen israelische Besucher weiterhin nach Tunesien. In einem anderen Kontext bestätigten Reiseveranstalter der DW, dass jährlich hunderte Reisende aus Israel nach Djerba kämen. Da es zwischen Israel und Tunesien keine direkte Flugverbindung gibt, erfolgt die Einreise für gewöhnlich über ein Drittland.

Wie geht es nach dem Anschlag für Djerba weiter?

Die Wallfahrt nach Djerba und der Tourismus sind für die Bevölkerung der Insel eine wichtige Einnahmequelle, ganz unabhängig von ihrer Religion. Für viele tunesische Unternehmen, die von dieser Branche abhängig sind, hatten extremistische Anschläge, die Corona-Pandemie und der Krieg in der Ukraine bereits verheerende Auswirkungen. Viele hoffen, dass dieser Sommer neue Einnahmen bringen werde. So beeilten sich auch die tunesischen Behörden, potenziellen Besuchern zu versichern, dass der Urlaub in Tunesien nach wie vor sicher sei.

Die Insel Djerba ist ein beliebtes Ziel für TouristenBild: Chedly Ben Ibrahim/NurPhoto/picture alliance

Auf Djerba bangten die schockierten Einwohner jetzt, dass sich der Anschlag auf die kommende Saison auswirkt, bestätigt Qais Alawi, der auf der Insel lebt und im Hotelgewerbe arbeitet. In Kürze wolle er eine neue Stelle in einem Hotel antreten und hoffe, dies auch weiterhin tun zu können. "Über politische oder internationale Auswirkungen machen die Einwohner sich nicht allzu viele Sorgen", erklärt er. "Aber wie die Touristen reagieren, und ob es eine Welle von Stornierungen gibt - darauf schauen alle. Die Hotels und die Arbeitsplätze hier sind unmittelbar bedroht."

Der französische Restaurantbetreiber Marco Zagdovd hilft regelmäßig, die Prozession während der Wallfahrt zu organisieren und Spenden für die Synagoge La Ghriba zu sammeln. Er ist fest entschlossen, trotz des Anschlags auch weiterhin nach Djerba zu kommen. "Tunesien ist ein gastfreundliches Land und die Menschen hier sind sehr traurig über das, was passiert ist", betont er im Gespräch mit der DW. "Wir sind umgeben von Menschen, die uns unterstützen und uns Trost spenden."

Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.

Tarak Guizani Freier Korrespondent Tunesien
Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen

Mehr zum Thema

Weitere Beiträge anzeigen