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KonflikteUkraine

Dnipro in Gefahr? Was Russlands Armee in der Ukraine plant

Roman Goncharenko
21. Januar 2025

Die russische Armee umgeht Pokrowsk von Süden her. Aber ohne die Einnahme der ostukrainischen Stadt halten Experten einen Vorstoß nach Westen in Richtung der Millionenstadt Dnipro als unwahrscheinlich. Was ist das Ziel?

Von einem russischen Raketenangriff zerstörtes Wohngebäude in Dnipro im Januar 2023
Russischer Raketenangriff auf ein Wohngebäude in Dnipro im Januar 2023Bild: Ukrinform/dpa/picture alliance

Die Frage, was passiert, wenn Russlands Armee Pokrowsk einnimmt, wird in den Medien und in Expertenkreisen seit August 2024 diskutiert. Damals hatten sich russische Truppen dem wichtigen Verkehrsknotenpunkt im Westen der Region Donezk genähert. Die Streitkräfte der Ukraine konnten dort bislang den russischen Vormarsch bremsen, mit Ausnahme des südlichen Abschnitts dieser Front, wo die Russen Pokrowsk umgangen haben.

In Presseberichten wird vermutet, dass die Russen Straßenkämpfe um die Stadt nur vorübergehend meiden und weiter nach Westen in die Region Dnipropetrowsk ziehen könnten. Wäre das möglich und wie schnell könnten die Russen bis zur Stadt Dnipro gelangen?

Warum umgehen die Russen Pokrowsk?

"Es ist unwahrscheinlich, dass sie Pokrowsk hinter sich lassen und sich in eine andere Richtung ausstrecken", sagt Viktor Tregubow, Sprecher des ukrainischen Armeeverbandes "Chortyzja" im Gespräch mit der DW. "Das wäre unlogisch und riskant für sie." Er rechnet damit, dass die russische Armee ihre Hauptanstrengungen in den Norden der Region Donezk verlagert - in Richtung der Städte Kostjantyniwka, Kramatorsk und Slowjansk, die unter Kyjiws Kontrolle sind.

Tregubow zufolge würde dies zudem den erklärten Zielen der Russischen Föderation entsprechen, die die Region Donezk per Annexion bereits als Teil ihres Territoriums in ihre Verfassung aufgenommen hat. Nach Meinung des ukrainischen Militärvertreters zielt die Umgehung von Pokrowsk eher darauf ab, die logistischen Routen der ukrainischen Streitkräfte abzuschneiden, statt einen Durchbruch in Richtung Dnipro zu forcieren.

Auch Markus Reisner, österreichischer Militärexperte und Oberst des Bundesheeres, meint, für die russische Armee sei jetzt nicht die Einnahme neuer Orte wichtig, sondern vielmehr die Unterbrechung der Versorgungswege der ukrainischen Armee. "Rein aus militärischer Sicht, operativ betrachtet, ist es für Russland sinnvoller, nicht Richtung Westen vorzustoßen", sagt der Oberst der DW.

Die Russen könnten beispielsweise den in der Vergangenheit erfolglosen Vorstoß aus dem Norden im Gebiet Isjum der Region Charkiw Richtung Süden wiederholen, was den Druck auf die ukrainische Gruppe in der Region Donezk erhöhen würde. Reisners Einschätzung nach gelingt es den Ukrainern bislang, die Verteidigung dort aufrechtzuerhalten. Doch der Vormarsch der russischen Armee in anderen Gebieten, insbesondere die Einnahme von Kurachowe Anfang Januar, ermögliche es ihr, Kräfte für eine Verlegung in die Gegend von Pokrowsk freizumachen, so der Militärexperte.

Er weist darauf hin, dass sich die Kämpfe um Pokrowsk von denen um andere Städte unterscheiden. Es sei bislang nicht zu einem massiven Artillerieeinsatz gekommen, wie etwa in Bachmut, das im Frühjahr 2023 eingenommen wurde. "Ich glaube, dass die Russen versuchen, Pokrowsk zu erhalten und dann einzunehmen, damit die Stadt möglichst wenig Schaden nimmt", vermutet Reisner und betont, die Russen würden Pokrowsk als "wichtigen Verkehrsknotenpunkt für Einsätze Richtung West, Nordwest und Nord" betrachten. "Hinter den Russen liegt nur zerstörtes Land, kaum Infrastruktur, die man nutzen kann", sagt er.

Wann droht Pawlohrad Gefahr?

Sollte sich die russische Armee irgendwann von Pokrowsk aus in die Region Dnipropetrowsk aufmachen, dann wäre Pawlohrad die nächste Großstadt auf diesem Weg. Jurij Butusow, ukrainischer Militärjournalist, Chefredakteur des Portals "Censor.net" und ehemaliger Berater des ukrainischen Verteidigungsministeriums, geht zwar nicht von einem schnellen Vorrücken der Russen aus, warnt aber: Sollte die russische Armee jetzt nicht gestoppt werden, könnte Pawlohrad beim jetzigen Tempo der Russen in etwa anderthalb Jahren in Gefahr sein.

Butusow zufolge brauchte die russische Armee vom Donezker Vorort Awdijiwka, der Anfang 2024 eingenommen wurde, bis Pokrowsk für eine Strecke von etwa 40 Kilometern ein halbes Jahr. Von Pokrowsk nach Pawlohrad ist es mehr als doppelt so weit. "Es ist zu früh, über Pawlohrad zu reden", meint Butusow daher, auch wenn er die Lage für die Region Dnipropetrowsk insgesamt als "sehr bedrohlich" einschätzt.

Folgen der russischen Angriffe auf Pawlohrad im Mai 2023Bild: Governor of Dnipropetrovsk Regional Military-Civil Administration Serhii Lysak/Telegram/REUTERS

Pawlohrad ist ein Industriezentrum in Dnipropetrowsk. "Die Berichte über die Lage rund um die Stadt sorgen für Nervosität, aber die Behörden von Pawlohrad und des Bezirks funktionieren effektiv", versichert Dmytro Pawlow, Vorsitzender des Pawlohrader Bezirksrats. Laut seinen Angaben leben derzeit rund 100.000 Menschen in der Stadt und mehr als 230.000 in der Region, darunter auch Vertriebene aus Donezk und anderen Gebieten der Ostukraine, wo gekämpft wird.

Der wichtigste Wirtschaftszweig der Stadt ist der Bergbau. Östlich von Pawlohrad erstreckt sich ein Steinkohlenrevier, in dem die Holdinggesellschaft DTEK zehn Bergwerke betreibt. Ferner gibt es dort ein Chemiewerk, das Sprengstoff und Munition für die Verteidigungsindustrie herstellt. Zu Zeiten der Sowjetunion produzierte es auch Treibstoff für ballistische Atomraketen, die im Werk Juschmasch im Gebiet Dnipropetrowsk gebaut wurden. Genau dieses Unternehmen griff Russland Ende 2024 mit seiner neuen Mittelstreckenrakete des Typs "Oreschnik" an. Von Pawlohrad bis zur Stadt Dnipro sind es etwa 75 Kilometer.

Welche Bedeutung hat die Stadt Dnipro?

Dnipro ist mit fast einer Million Einwohnern nach Kyjiw, Charkiw und Odessa die viertgrößte Stadt der Ukraine. Sie ist eines der größten Industriezentren des Landes und wurde nach Beginn der Kämpfe im Donbass im Jahr 2014 neben Charkiw zu einem wichtigen Versorgungszentrum der ukrainischen Armee. Die Stadt gehört auch deswegen zu den Zielen der Russen.

Der Militärjournalist Butusow betont in diesem Zusammenhang, dass Russland unbedingt die "Zerstörung des Verteidigungspotenzials der Ukraine" erreichen wolle. Von Pokrowsk aus könnten die russischen Truppen in verschiedene Richtungen vorrücken und ihre Anstrengungen dort konzentrieren, wo die schwächsten ukrainische Einheiten seien, so der Journalist.

Blick auf die Stadt DniproBild: Ivan Tykhyi/Zoonar/picture alliance

Das Tempo eines Vormarsches nach Westen Richtung Dnipro würde davon abhängen, ob die Ukraine starke Befestigungen errichten und Reserven bereitstellen könne, meint Reisner. An einigen anderen Frontabschnitten habe es Probleme gegeben, die unter anderem die ukrainische Armee zum Rückzug gezwungen hätten.

Aber auch für die Russen ist die Lage schwierig. "Das Dilemma der Russen ist, je weiter sie sich vorwagen, desto mehr haben sie Sorgen um ihre Flanken und desto länger werden ihre Versorgungslinien. Das ist, was ihnen zu Beginn des Krieges das Genick gebrochen hat", so Reisner, der die Taktik der russischen Armee mit Perlen einer Kette vergleicht. "Sie versuchen, eine nach der anderen aufzufädeln und stützen sich auf die letzte", sagt der Experte und meint, dass dies gerade in Pokrowsk der Fall sei.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

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