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Politik

Doch kein "Aus" für Kinder-Aufbewahrungsstätten?

Luboš Palata
19. Mai 2021

Die Tschechische Republik ist eines der letzten EU-Länder, wo es Heime für Säuglinge und Kleinkinder gibt. Nun droht die Abschaffung dieser Relikte aus der kommunistischen Diktatur zu scheitern.

Russland Symbolbild Adoptivfamilie Adoptivkind Waisenhaus Kinderheim
"Kollektive Erziehung": 1952 schafften die Kommunisten in Tschechien Pflegefamilien ab und führten Waisenhäuser einBild: picture-alliance/dpa/V. Sharifulin

Die Säuglings- und Kleinkinderheime der Tschechischen Republik sind eines der letzten Überbleibsel der Diktatur (1948-1989): 1952, vier Jahre nach dem kommunistischen Putsch in der damaligen Tschechoslowakei, schaffte das neue Regime jegliche Unterstützung für die Pflege elternloser Kinder in Pflegefamilien ab und führte Waisenhäuser mit "kollektiver Erziehung" ein.

Heute ist der EU-Mitgliedsstaat Tschechien eines der letzten Länder in Europa, in denen auch Kinder unter drei Jahren in Heimen untergebracht werden, wenn sie keine Eltern haben oder diese sich nicht um sie kümmern können oder wollen. Nun, nach fast siebzig Jahren, ist die Abschaffung dieser Aufbewahrungsstätten für Babys und Kleinkinder endlich im Prager Parlament.

Doch das Gesetz, mit der die Säuglings- und Kinderheime abgeschafft werden sollten, wurde Anfang Mai vertagt. Damit ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Abgeordnetenkammer noch in der laufenden Legislaturperiode über die Abschaffung der Heime entscheidet, erheblich gesunken. Gelingt das nicht, dann muss der gesamte Gesetzgebungsprozess nach den Wahlen (8./9.10.2021) wieder ganz von vorne beginnen.

Julie Kochová ist Vorsitzende der tschechischen Kinderschutzorganisation "Dobrý start" (Guter Start)Bild: Privat

"Das sind sehr schlechte Nachrichten", meint Julie Kochová, die Vorsitzende der tschechischen Kinderschutzorganisation "Dobrý start" (Guter Start), gegenüber der DW. "Die Abgeordneten haben ein Gesetz verhindert, dass die betroffenen Kinder endlich aus diesen Heimen herausgeholt und die Unterstützung für eine Pflege in Familien erhöht hätte."

Lebenslange Schäden

Hauptargument für die Abschaffung der Heime ist, dass die Unterbringung sehr junger Kinder außerhalb von Familien nach Ansicht der allermeisten Experten schwerwiegende psychische Schäden verursacht, die die betroffenen Personen ihr ganzes Leben lang belasten. "Auf diese Weise erzeugen wir als Gesellschaft benachteiligte Menschen", so die Soziologin Terezie Pemová vom Nationalen Institut für Kinder und Familien.

Will Tschechiens Säuglings- und Kleinkinderheime abschaffen: Aleš Juchelka, Mitglied der Regierungspartei ANOBild: PSPČR

"Kinder unter drei Jahren sollten auf keinen Fall in Heimen leben", meint auch Aleš Juchelka, Mitglied der Regierungspartei ANO (Deutsch: Aktion unzufriedener Bürger) und Abgeordneter im tschechischen Parlament, die Hauptfigur bei den derzeitigen Bemühungen zur Abschaffung der Heime, gegenüber der DW.

Zu wenig Pflegeeltern?

Andere Politiker in Tschechien lehnen die Abschaffung der derzeitigen Heime dagegen ab. Sie meinen, ohne diese Einrichtungen bestünde die Gefahr, dass einige Kinder auf der Straße landen. "Wenn wir das betroffene Kind nirgendwo unterbringen können, können wir das Heim, in dem es lebt, nicht einfach schließen", meint etwa die kommunistische Abgeordnete Hana Aulická Jírovcová.

Meint, dass die Kleinkinderheime gebraucht werden: Die kommunistische Abgeordnete Hana Aulická JírovcováBild: PSPČR

"Das Argument, dass es nicht genug Pflegeeltern gäbe, ist definitiv falsch", sagt dazu Kinderschützerin Julie Kochová. Der Gesetzesvorschlag sehe für den Übergang vom jetzigen zum neuen System eine Übergangszeit von mehreren Jahren vor; das reiche aus, um mehr Pflegeeltern zu finden und medizinische Betreuungseinrichtungen für irreversibel geschädigte Kinder zu schaffen.

Hilfe für sozial benachteiligte Familien

Kochová ist sicher: "Für kleine Kinder ist es ziemlich realistisch, Pflegefamilien zu finden." Zudem brauche es aber auch Einrichtungen zur Unterstützung sozial benachteiligter Familien: "Bisher konnte das tschechische System ihnen keine andere Form der Unterstützung bieten als die Unterbringung eines Kindes in einem Heim. Das muss sich jetzt ändern".

Pavel Šmýd ist der Vorsitzende der Vereinigung der Pflegefamilien TschechiensBild: Magistrát města Brna/Zdeněk Kolařík

Auch der Vorsitzende der Vereinigung der Pflegefamilien Tschechiens, Pavel Šmýd, hält das Finden von Pflegefamilien für kein Problem. Tatsächlich lebten heute in dem EU-Land überhaupt nur noch etwa 250 Kinder in Heimen. "Die Zahl der pflegenden Personen beträgt insgesamt 20.480, darunter sind auch leibliche Großeltern und andere Verwandte. Zudem gibt es 732 Pflegeeltern, die für eine Übergangszeit die Rolle der Heime übernehmen können", so Šmýd gegenüber der DW.

Es geht nicht nur um Geld

Die Zahl der Pflegeeltern werde dadurch beeinträchtigt, dass der Staat die Unterstützung für vorübergehende Pflege auf gerade mal 20.000 Kronen (800 Euro) pro Kind reduziert habe. "Die Tschechische Republik kann als eines der am weitesten entwickelten Länder der Welt genügend Pflegefamilien für Kinder bereitstellen, die sich heute in Heimen befinden", meint der ANO-Abgeordnete Juchelka. Er will das Entgelt der Pflegefamilien auf mehr als 1100 Euro für das erste Kind deutlich erhöhen.

Eine Pflegefamilie in Tschechien mit "ihrem" KleinkindBild: Dobrý Start

Für viele Pflegeeltern steht Geld aber gar nicht an erster Stelle. "Wir können mit der Unterstützung gerade so auskommen", sagt die 62-jährige Marie Těthová aus der Stadt Uherský Ostrov gegenüber der DW. Die Ex-Krankenschwester ist seit den 1990er Jahren Pflegemutter und hat im Laufe der Jahre zehn Kinder betreut. Zurzeit hat sie auch Kleinkinder in vorübergehender Pflege, die in Tschechien derzeit maximal ein Jahr dauert.

Die Bedürfnisse der Kinder

"Ich werde dem Kind helfen und es dann einer dauerhaften Pflegefamilie übergeben", betont Těthová. "Das ist mein Beruf." Für Kleinst- und Kleinkinder sei die Pflege am wichtigsten: "Sie brauchen ständiges Interesse und ständige Fürsorge, und genau das ist in den Heimen selbst beim besten Willen einfach nicht möglich. Eine Pflegefamilie ist da viel besser, sie ist viel näher an der natürlichen Familienumgebung."

Eine Pflegefamilie in Tschechien mit "ihrem" Roma-KindBild: Dobrý Start

In vielen Regionen Tschechiens sind die Heime in den letzten Jahren auch ohne neue Gesetze verschwunden. Ausnahmen sind die Gebiete entlang der Grenze zur Bundesrepublik. Dort leben besonders viele der etwa 300.000 Angehörigen der Roma-Minderheit des EU-Landes. "Die meisten Heime für Kleinkinder gibt es heute in Nordböhmen - und genau dort gibt es auch sehr wenige Pflegeeltern", berichtet Pavel Šmýd von der Vereinigung der Pflegefamilien. "Und dabei spielt natürlich auch eine Rolle, dass ein großer Teil der betroffenen Kinder Roma sind."

Der Abgeordnete Juchelka kämpft weiterhin dafür, dass das Gesetz über die Schließung der Heime für Säuglinge und Kleinkinder in der Tschechischen Republik noch vor den Parlamentswahlen verabschiedet wird. Er ist überzeugt: "Auch wenn mir nichts anderes gelungen wäre - dafür allein hätten sich die Jahre im Parlament gelohnt."

Luboš Palata Europaredakteur der tschechischen Tageszeitung "Deník".