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Kunst

Verlernen, um neu zu lernen

8. April 2017

Das erste Mega-Event dieses Kunstsommers ist gestartet. Die documenta hat die griechische Hauptstadt Athen in Beschlag genommen - auch wenn sie sich zunächst einmal versteckt.

Documenta 14 in Athen - Marmorzelt der kanadischen Künstlerin Rebecca Belmore
Ein Marmorzelt der kanadischen Künstlerin Rebecca Belmore Bild: DW/U. Sommer

Werbung scheint die Documenta nicht nötig zu haben. Jedenfalls macht sie kaum welche. Sehr vereinzelt weisen Plakate in den Straßen darauf hin, dass die wichtigste Kunstschau der Welt mit ihrer 14. Ausgabe in Athen Station macht. Und so haben viele Bewohner der griechischen Hauptstadt noch gar nichts davon mitbekommen. Die documenta 14 will entdeckt werden, und nicht mit viel Tamtam als Weltkunstspektakel auftreten oder in den Ruf geraten, sich vom Stadtmarketing vereinnahmen zu lassen.

"Von Athen lernen" heißt für den künstlerischen Leiter Adam Szymczyk, der das Motto ausgegeben hat, wieder über Inhalte in der Kunst zu reden, nicht für den Markt zu arbeiten. Inspiriert hätten ihn die Gedanken des britischen Improvisationsmusikers Cornelius Cardew: "Verlernen ist der Schlüssel zum Lernen", sagte er auf der Pressekonferenz vor hunderten Journalisten aus der ganzen Welt. Auf die Frage, was von Athen zu lernen sei, gab er die Antwort: "Vorgefertigtes zu verlassen und sich in einen Zustand des Nichtwissens zu begeben."

Auf dem Kotzia-Platz mitten in Athen lädt der Künstler Rashid Atheen Menschen ein, gemeinsam ein Essen zu genießenBild: DW/S. Oelze

Das Erste, was es allerdings zu erlernen gilt, ist, sich einen Überblick zu verschaffen über die rund 44 Ausstellungsorte. Sie liegen zwischen dem Hafen Piräus und der Akropolis und führen den Besucher auch in entlegenere Viertel wie Patissa, in die sich sonst kein Tourist verirren würde. Zu den vier Hauptausstellungsorten gehören das Konservatorium, die Kunsthochschule, das Benaki Museum und das Nationalmuseum für zeitgenössische Kunst EMST. Als Ariadnefaden dient ein Daybook und ein "Reader", der den gedanklichen Überbau zusammenfasst.

Zwischen Anarchie und Pädagogik

Wer den Kuratoren der Documenta lauscht, bekommt den Eindruck, sie wollten nichts Geringeres als die Welt retten. Darauf, die Krise zu bebildern, verzichtet die documenta glücklicherweise. Gleich im Eingangsbereich des EMST, dem frisch eingeweihten Museum für zeitgenössische Kunst, häufte Marta Minujin Oliven auf. Ihr Vorschlag: Die Rückzahlung der Schulden an Deutschland mit Oliven und Kunst.

Bild: DW/S. Oelze

Mit dem Alltag in Athen, bzw. was davon übrig bleibt, befassen sich Künstler wie Daniel Knorr, der in Bukarest geboren ist und in Berlin lebt. Tagelang marschierte er mit einem Handwagen durch Athen, um Müll zu sammeln. Im Konservatorium, einem architektonischen Paradebeispiel misslungener Stadtplanung, türmt er all das Ausgemusterte, Verworfene zu einem bunten Haufen auf: kaputtes Kinderspielzeug, Plüschtiere, Elektroschrott, Geldscheine.

Maria Eichhorn setzt sich mit der Geschichte der Gegend um den Amerikis Square auseinander. Sie hat ein kleines Arbeiterhaus, erbaut 1928, in Beschlag genommen, um es der Nutzung für soziale Zwecke zur Verfügung zu stellen. Im Zuge der Finanzkrise hat es mehrmals den Besitzer gewechselt, bis sich keiner mehr zuständig fühlte. Jetzt ist es Teil des documenta-Kosmos und wird hoffentlich vor dem Verfall gerettet. Leider war es am Tag der Eröffnung noch nicht in Betrieb.

Jeder Ausstellungsort für sich gibt Auskunft über Vergangenheit und Gegenwart der Stadt. Ob Agora, Akropolis, das Museum des anti-diktatorischen und demokratischen Widerstands, wo ein Film des syrischen Kollektivs Abounaddara zu sehen ist, archäologische Museen, stillgelegte Fabriken oder der Hafen von Piräus: alle Orte konfrontieren den Besucher mit Athens Geschichte.

Kolonialismus und Kapitalismus

Einige Arbeiten der 160 Künstler kreisen um die Folgen von Migration, Kolonialismus und Globalisierung. Die Gemälde des Albaners Edi Hila, die das Innere öffentlicher Gebäude in Tirana zeigen, strahlen eine unnahbare Kühle aus. Der Künstler gilt als Chronist seines Landes und war unter der Diktatur von Enver Hoxha verboten. 

Edi Hila: "Potential Monuments of unrealised Futures"Bild: DW/S. Oelze

Andere Arbeiten sollen helfen, Zusammenhänge zu verstehen, zum Beispiel das Verschwinden nationaler Identitäten oder die Auflösung kultureller Eigenheiten. Die "Sami Artist Group", ein skandinavisches Künstler-Kollektiv, das in der Sápmi-Region zur Welt gekommen ist, erforscht das Leben des indigenen Volkes der Sami. Eine Minderheit, die seit mehr als 5000 Jahren in der Arktis-Region Sápmi lebt und eine eigene Sprache und Kultur pflegt.

Ein beeindruckender Film ohne Bilder ist "The Last Silent Movie" von Susanne Hiller. Die Leinwand bleibt schwarz, zu hören sind Stimmen der letzten Sprecher vom Aussterben bedrohter Sprachen. 20 Minuten lang sind die Stimmen, die Hiller in Archiven der ganzen Welt zusammengesucht hat, im Original zu hören. Keiner dieser Sprecher weiß zum Zeitpunkt der Aufnahme, dass seine Sprache irgendwann nicht mehr da sein könnte. Die fremden Stimmen bleiben als trauriges Mahnmal eines kulturellen Verlusts lange im Gedächtnis haften.

Zusammenhänge verstehen

Kunst, die uns beistehen soll, Zusammenhänge zu begreifen, die wir sonst in dieser Form nicht sehen, kommt auch von Allan Sekula. Seine Bilderserie vom Ende der 1970er Jahre heißt "School is a Factory" ("Schule ist eine Fabrik") und erforscht, wie sich Bildung und Ausbildung der kapitalistischen Verwertung unterordnen. "Unsere Schule machen aus Schülern Produkte", zitiert Sekula Ellwood Cubberly, der 1916 die Public Schools in den USA kritisierte. 

Allan Sekula: "School is a Factory"Bild: DW/S. Oelze

Als Besucher muss man sich die Informationen allerdings mühsam zusammensuchen. Die kurzen Hinweistafeln reichen nicht, um Hintergründe zu erklären. Auch wurde bewusst auf biografische Informationen verzichtet. Das passt zum Konzept, Kategorien wie nationale Herkunft über Bord zu werfen. Allerdings geht sich die documenta dabei selbst in die Falle. Der Filmemacher Bouchra Khalili, 1975 in Casablanca geboren, bringt das Dilemma in seinem Film "The Tempest Society" auf den Punkt: Dieser lässt unter anderem in Athen lebende Migranten zu Wort kommen, die durch ihre nationale Herkunft keine Perspektive in Griechenland haben. Ihr prekärer Aufenthaltsstatus erlaubt ihnen nicht, eine Ausbildung zu beginnen oder sich langfristig eine Existenz aufzubauen.

Von Senf-Schlachten und chinesischen Zwerg-Genies

Zahlreiche dokumentarische oder fiktive Filmarbeiten sind es, die das, worum es auf der Documenta geht, besonders gut veranschaulichen - und das, ohne zu belehren: Naeem Mohaiemen hat als Schauplatz für "Tripoli Cancelled" den leer stehenden Flughafen Athen Ellnikon gewählt. Der gespenstischen Leere begegnet der dort von der Zivilisation abgeschnittene Protagonist durch Selbstgespräche, Tanzen und Singen. Mohaiemens Vater saß einmal in Ellikon fest, als ihm sein Pass verloren gegangen war und er nicht nach Tripoli weiterfliegen konnte. Inzwischen steht der Flughafen, der auch in die Schlagzeilen geriet, weil dort Flüchtlinge unter schlechtesten Bedingungen untergebracht waren, zum Verkauf.

"Tripoli Cancelled" von Naeem MohaiemenBild: Mathias Völzke

Ganz anders, aber nicht weniger erkenntnisreich, sind die "Somniloquies". Somniloque bezeichnen Wissenschaftler das Phänomen, wenn Menschen im Schlaf reden. Ein Video bringt die verbalen Kreationen des Liedermachers Dian McGregor (1922-1994) in verschwommenen Bildern auf die Leinwand. McGregors Mitbewohner zeichnete auf, was der stark Träumende nächtens vor sich hin redete. Er erzählt außerordentlich verständlich von der Angst, nicht das leibliche Kind der Eltern zu sein - außerdem von Senf-Schlachten und chinesischen Zwerg-Genies.

Nach vielen gut gemeinten Aufklärungsversuchen über das Scheitern des Kapitalismus und allem was dazu gehört, freut sich der Verstand mal über etwas Unterhaltung. Da bringt es Erleichterung, über den wirren Schlafkosmos McGregors auch mal schmunzeln zu dürfen. 

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