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Kunst

Philipp Oswalt: "Was soll diese Wortlosigkeit?"

Christine Lehnen
28. Juli 2022

Eine weitere antisemitische Darstellung ist auf der documenta aufgetaucht. Der neuen Leitung wird vorgeworfen, den Kopf in den Sand zu stecken.

Ein Buch liegt auf einem roten Tisch neben vielen weiteren Unterlagen. Eine ältere Frau blättert darin, sie trägt einen Ring.
Diese Darstellung meldete eine Besucherin der documenta als antisemitischBild: Uwe Zucchi/picture alliance/dpa

Nachdem auf der Weltkunstaustellung documenta in Kassel erneut antisemitische Motive entdeckt worden sind, wurde der Vorwurf laut, auch unter neuer Leitung würde sich die documenta "in ein Schneckenhaus zurückziehen" und keine Gesprächsbereitschaft über Antisemitismus und die Grenzen der Kunstfreiheit zeigen.

So formulierte es Philipp Oswalt, Professor für Architekturtheorie an der Universität Kassel, im Telefongespräch mit der DW. Er ist stellvertretender Geschäftsführer des Kasseler Traces Instituts zur transdisziplinären Ausstellungsforschung, das auch über die documenta arbeitet, und war bis Ende 2020 am Gründungsprozess des documenta-Instituts beteiligt. 

Oswalt zeigt sich enttäuscht davon, dass das Kuratorenteam und die Geschäftsführung der documenta auch unter der neuen Leitung von Alexander Farenholtz weiterhin zu Vorwürfen schweigen oder sie kleinreden. "Was soll diese Wortlosigkeit von allen?"

Intifada mit antisemitischen Stereotypen thematisiert

Am Mittwoch (27.07.2022) wurde bekannt, dass auf der documenta erneut antisemitische Bilder entdeckt worden sind. Dieses Mal nicht als Teil eines Kunstwerks, sondern in einer Broschüre, die Fotos und Abbildungen eines feministischen Archivs aus Algerien enthält, und auf Tischen im Museum Fridericianum ausliegt. Das teilte die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Hessen (RIAS Hessen) in Marburg mit.

Das Heft "Présence des Femmes" von 1988 enthalte Zeichnungen des syrischen Künstlers Burhan Karkoutly, der im Jahr des Palästinenseraufstands, der ersten Intifada, antisemitische Stereotype abbilde, erklärte die Pressesprecherin Susanne Urban dem Evangelischen Pressedienst epd. Die "Jüdische Allgemeine" hatte am Mittwoch zuerst darüber berichtet. 

Zu sehen sind auf zwei der in die Kritik geratenen Bilder israelische Soldaten, die als entmenschlichte Roboter mit entblößten Zähnen dargestellt werden. Unter dem einen Bild bedroht ein Gewehrlauf einen jungen Mann, auf dem anderen packt einer der Roboter-Soldaten ein Kind am Ohr. Auf einem anderen Bild tritt eine Frau einem israelischen Soldaten in den Unterleib, dessen Gesicht mit übergroßer Hakennase in der Tradition antisemitischer Karikaturen gezeichnet ist.

documenta: "Kontextualisierung wurde versäumt"

Am Donnerstag gab die documenta GmbH in einer Pressemitteilung bekannt, dass die Gesellschafter von den Darstellungen im Archivmaterial nichts gewusst hätten, die Leitung jedoch bereits vor drei Wochen von einer Besucherin informiert wurden. "Es wurde versäumt eine geeignete Kontextualisierung vorzunehmen", heißt es in der Pressemitteilung.

Dies wolle man nun nachholen. Man gehe davon aus, hieß es weiter, dass die künstlerische Leitung das Objekt entfernen würde, bis erklärendes Material zur Einordnung bereitgestellt sei. Man beeilt sich hinzuzufügen: "Diese Vorgänge haben nicht unter der Verantwortung des Interimsgeschäftsführer Alexander Farenholtz stattgefunden."

Antisemitisches Kunstwerk "People's Justice" im Juli entfernt

Unabhängig davon, dass Philipp Oswalt die Skandalisierung der nun aufgetauchten Darstellungen nicht nachvollziehen könne, verwundere es ihn, dass auch die neue Leitung sich in Ausreden flüchte, statt aktiv zu werden. Die Weltkunstausstellung laufe immerhin 100 Tage, da könne man zum Beispiel Diskussionsveranstaltungen ansetzen, Begegnungsforen einrichten, sogar neue Kunst produzieren.

Zu Beginn der documenta war das Großkunstwerk "People's Justice" des indonesischen Künstlerkollektivs "Taring Padi" in die Kritik geraten, da es eine antisemitische Bildsprache enthielt. Die Leitung der documenta ließ es nach heftiger öffentlicher Kritik entfernen, das Kollektiv entschuldigte sich.

Das Großbanner "People's Justice" musste abgebaut werdenBild: Uwe Zucchi/dpa/picture alliance

Oswalt: Antisemitismus gibt es im deutschen wie im indonesischen Kunstbetrieb

"Die Entschuldigung wegen antisemitischer Motive muss man natürlich ernst nehmen, aber es gab keine Reflexion, wie es überhaupt dazu gekommen ist; antisemitische Ikonografien aufzugreifen, passiert ja nicht aus Versehen", so Oswalt. 

Das könne man auch nicht mit einer "besonderen deutschen" Empfindlichkeit beim Thema Antisemitismus begründen oder durch die Tatsache, dass das Künstlerkollektiv "Taring Padi" aus Indonesien stamme. Antisemitismus gebe es im deutschen genauso wie im indonesischen Kunstbetrieb, im globalen Süden und im globalen Norden. 

Fassungslosigkeit in der jüdischen Gemeinde

"Man muss sich fragen, wie weit wir in Deutschland sind, wenn diese Bilder als vermeintliche 'Israelkritik' für gut befunden werden können", sagte Josef Schuster, Präsident des Zentralrat der Juden am Donnerstag. Die documenta fifteen werde "als antisemitische Kunstschau in die Geschichte eingehen". Dass die Schau bis zum geplanten Ausstellungsende am 25. September laufe, "erscheint kaum mehr vorstellbar".

Der Leiter der Bildungsstätte Anne Frank, Meron Mendel, zeigte sich nach eigenen Worten gegenüber der Deutschen Presse-Agentur dpa "fassungslos" über das neuerliche Auftauchen antisemitischer Motive. Mendel war zeitweise als Berater der documenta tätig, zog sich aber aufgrund von Untätigkeit der vorherigen Geschäftsführerin Sabine Schormann wieder zurück. Gegenüber der DW sagte er schon im Juni: "Die documenta steht vor einem Scherbenhaufen."

Die documenta fifteen läuft noch bis zum 25. September 2022.

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