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documenta: Erklärungsversuche im Antisemitismus-Streit

Kevin Tschierse
30. Juni 2022

"Wir müssen verbal abrüsten", so die Forderung beim ersten Podiumsgespräch zur documenta, das in Kassel stattfand. Es ging um Kunstfreiheit und Antisemitismus.

Eine Frau mit einer Israel-Flagge steht vor dem teilweise verhüllten, großflächigen Banner, eine Figurendarstellung "People’s Justice" (2002) des Kollektivs Taring Padi
Das mittlerweile abgebaute Banner des Künstlerkollektivs Taring Padi mit umstrittenen Figuren ließ den Streit um die documenta endgültig eskalieren Bild: Swen Pförtner/dpa/picture alliance

Versuch der Aufarbeitung nach documenta-Eklat

02:46

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Die documenta fifteen steht in keinem guten Licht da, seit zu Jahresbeginn eine Antisemitismusdebatte um die Weltkunstschau ausbrach. Als dann zum Ausstellungsstart Mitte Juni tatsächlich antisemitische Motive in einem Kunstwerk des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi auftauchten, kam es zum Eklat. Nun sollte endlich die öffentliche Aufarbeitung beginnen, daher lud die Trägergemeinschaft documenta gGmbH und die Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank am Mittwoch (29.06.2022) in Kassel zur Podiumsdiskussion ein: der Titel: "Antisemitismus in der Kunst".

ruangrupa nicht auf dem Podium

Ein Mitglied des indonesischen Kuratorenkollektivs ruangrupa, dem im Vorfeld Antisemitismus vorgeworfen wurde, saß nicht in der Runde, ebenso wenig die documenta-Direktorin Sabine Schormann. Doch meldete sich gleich zu Beginn aus dem Publikum das ruangrupa-Mitglied Ade Darmawan zu Wort. "Wir sind hier, um zu lernen und um zuzuhören", sagte er. Überhaupt sollte der Abend im "Zeichen des Dialogs" stehen, wie die hessische Kulturministerin Angela Dorn vorwegschickte.

Taring Padi Ausstellung bei der documenta fifteenBild: Sabine Kieselbach/documenta

Eine wirkliche Diskussion zwischen den Podiumsgästen kam allerdings nicht zustande. Auch aus dem Publikum gab es keinerlei Beiträge oder Nachfragen. So antworteten die Teilnehmenden im Wesentlichen auf die Fragen von Moderator Stefan Koldehoff. Neben Initiator Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, nahmen auch Hortensia Völckers, die künstlerische Direktorin und Vorstandsmitglied der Kulturstiftung des Bundes, Doron Kiesel, wissenschaftlicher Direktor der Bildungsabteilung des Zentralrats der Juden in Deutschland, Nikita Dhawan, Professorin für politische Theorie und Ideengeschichte an der TU Dresden, und Adam Szymczyk, der künstlerische Leiter der documenta 14 in Athen und Kassel (2017), an dem Gespräch teil.

Es diskutierten (von links nach rechts): Nikita Dhawan, Adam Szymczyk, Doron Kiesel, Hortensia Völckers, Meron Mendel und Moderator Stefan Koldehoff Bild: Sabine Kieselbach/documenta

Von Kommunikationsproblemen, organisatorischen Problemen und einer fehlenden Debatte während der documenta-Vorbereitung sprach Meron Mendel. Er nannte das ein großes Versäumnis und die eigentliche Ursache für die Antisemitismusvorwürfe gegen das Kuratorenkollektiv ruangrupa. "Wir waren seit Januar nicht in der Lage, miteinander in einen Dialog zu kommen", bedauerte Mendel. 

Erschütterung des Vertrauens 

Auch Doron Kiesel vom Zentralrat der Juden in Deutschland bemängelte eine fehlende Kommunikation im Vorfeld. Er und der Zentralrat sähen sich in einer Art "Wächter-Funktion", sagte er. Warum es " trotz mehrfacher Ankündigungen, Versprechungen und Zusagen nicht zu einer Einbeziehung des Zentralrats [...] gekommen ist", wollte er wissen. Auch beklagte er, dass keine israelischen Künstler nach Kassel eingeladen wurden. "Als wir mitbekommen haben, dass sich hier etwas zusammenbraut, auf einer Ebene, die bei uns eine gewisse Unruhe auslöst, nämlich: 'Wer ist das Kuratorium, wer ist das Team, wer sind diejenigen, die entscheiden über die Kunst und Exponate?' Da haben sich uns einige Fragen gestellt, ob tatsächlich auch ein Blick hinter die Kulissen getätigt worden ist."

Dieser Bildausschnitt auf dem Taring Padi-Banner befeuerte die Antisemitismus-Debatte Bild: Uwe Zucchi/dpa/picture alliance

Kiesel sprach von einer Erschütterung des Vertrauens in die Fähigkeit der Gesellschaft und "bestimmter Kreise auch der Verantwortlichen", mit der eigenen Geschichte umzugehen. Jeder, der in Deutschland lebe oder auftrete, müsse sich damit auseinanderzusetzen, auch Künstler aus dem globalen Süden. "Es ist das passiert, was in den übelsten Träumen passiert."  

Die Antisemitismus-Debatte steht im Schatten des Postkolonialismus

Kiesel merkte an, eine zu kritiklose Einlassung mit dem Postkolonialismus, wie dies auf der documenta fifteen insbesondere beim Taring-Padi-Kunstwerk geschehen sei, befördere den Antisemitismus. Dagegen hielt die aus Indien stammende Politikwissenschaftlerin Nikita Dhawan, die in Deutschland lehrt: "Ich kann in meinen Seminaren nicht über Rassismus oder Kolonialismus sprechen, ohne gleichzeitig über Antisemitismus zu sprechen."

Nikita Dhawan beschäftigt sich mit Fragen des Postkolonialismus Bild: Michael Kneffel/IMAGO

Dhawan unterrichtet unter anderem Postkoloniale Studien in Dresden. (Postkolonialismus ist der Überbegriff für die kritische Aufarbeitung der Geschichte des europäischen Kolonialismus in den Ländern des Globalen Südens, Anm. d. Red.). Sie betonte, auch der globale Süden sei für das Thema Antisemitismus sensibilisiert. Zum Beleg verwies sie auf die Akzeptanz Israels in Indien, die dort wesentlich größer sei als etwa in den USA. Sie berief sich auch auf die jüdische Philosophin Hannah Arendt als ein Fundament ihrer Lehre. Dhawan arbeitet eng mit dem Dresdner Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung zusammen.

Ein weiteres Thema an diesem Abend war die Frage nach der Kunstfreiheit. Adam Sczymczyk, der vor fünf Jahren die documenta 14 mit Standorten in Athen und Kassel verantwortete, wandte sich gegen eine strengere Aufsicht. Die Politologin Dhawan ergänzte: "Regulierung ist Faulheitspolitik." 

Versprochene Reformen fielen aus

Hortensia Völckers, Vorstandsmitglied der Bundeskulturstiftung, beklagte organisatorische Mängel bei der documenta. Zuvor hatten schon Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen) unklare Verantwortlichkeiten bei der documenta kritisiert, aus ihrer Sicht ein Grund für den Antisemitismus-Eklat. Der Bund unterstützt die diesjährige Weltkunstschau mit 3,5 Millionen Euro. Nach der Beinah-Pleite der Vorgänger-documenta 14 hatte sich der Bund 2018 aus dem Aufsichtsrat zurückgezogen, aber an der finanziellen Förderung festgehalten. 

Hortensia Völckers ist Vorstandsmitglied der Bundeskulturstiftung, die Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) unterstehtBild: Joerg Carstensen/dpa/picture alliance

Völckers kritisierte nun, dass der Aufsichtsrat, anders als 2018 angekündigt, nicht schon früher reformiert worden sei, um die Verantwortlichkeiten klarer zu regeln. "Das ist bis heute nicht geschehen", so Völckers. Die Debatte über Verantwortlichkeiten sei allerdings ein Scheingefecht. "Es ist immer leicht zu sagen, wären wir im Aufsichtsrat gewesen, wäre das nicht passiert. Ich hätte das auch nicht bemerkt."

Viele offene Fragen bleiben

Eigentlich wollte die documenta fifteen die Sichtweisen des globalen Südens in den Mittelpunkt rücken. Weniger westlich sollte die Weltkunstschau werden. Die Debatte über Antisemitismus jedoch zeigt, dass das gar nicht so einfach ist. Das bestätigte auch das Podiumsgespräch am Mittwochabend in Kassel.

"Die Leute haben den Kompass verloren. Wir müssen abrüsten", sagte Meron Mendel zum Abschluss. "Wir müssen diese verbale Eskalation runtersenken, damit wir endlich an der Sache selbst arbeiten können!" Und Nikita Dhawan erinnerte an die Worte des deutschen Aufklärers Immanuel Kant: "Das beste Mittel gegen Hassrede ist nach Kant die Gegenrede. Nur im öffentlichen Raum kann die Aufklärung gedeihen."

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