Doppelpass-Pläne
15. Juli 2013 Deutschland hat sich lange nicht als Einwanderungsland verstanden. Die überwiegend von konservativen Regierungen gestaltete Politik in der Bundesrepublik verlangte aus Angst vor Überfremdung und Parallelgesellschaften stets klare Verhältnisse und eine eindeutig mit dem Pass dokumentierte Loyalität. Die könne man als Angehöriger zweier Staaten nicht haben, argumentieren noch heute CDU-Politiker. Die Partei von Bundeskanzlerin Angela Merkel hält am deutschen Einbürgerungsrecht fest, das keine Mehrstaatigkeit vorsieht.
Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen hatten während ihrer Regierungszeit im Jahr 2000 versucht, das von 1913 stammende "Reichs- und Staatsangehörigkeitsrecht" zu modernisieren. Ausländern sollte der Weg in die deutsche Staatsangehörigkeit erleichtert werden und diese auch mit zwei Pässen möglich sein.
Die Reform änderte Einiges: So ist heute eine Einbürgerung schon nach sechs bis acht Jahren Aufenthalt in Deutschland möglich, statt erst nach 15 Jahren, wie früher üblich. Aber der zustimmungspflichtige, damals CDU-dominierte Bundesrat - die zweite Kammer des Parlaments - verhinderte, dass SPD und Grüne die Anerkennung einer doppelten Staatsbürgerschaft im neuen Gesetz festschreiben konnten. Der ausgehandelte und seit 2000 geltende Kompromiss schafft bis heute eine Situation, die viele Zuwanderer beklagen.
Verwirrende und gefährliche Rechtslage
Es kommen zum Beispiel viele Menschen aus Ländern, die ihre ehemaligen Bürger grundsätzlich nicht aus der Staatsbürgerschaft entlassen. So verfährt - neben Marokko, Syrien und dem Iran - noch ein Dutzend weiterer Länder. Wer von dort kommt und den deutschen Pass anstrebt, muss einen sogenannten "Beibehaltungsantrag" stellen. Dann wird auch in Deutschland die doppelte Staatsbürgerschaft möglich.
Das Recht auf zwei Zugehörigkeiten haben auch drei Millionen Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion, Kinder US-amerikanischer Eltern und alle Migranten aus Ländern der Europäischen Union. Alle übrigen Einwanderer aus Nicht-EU-Staaten müssen sich für eine Staatsangehörigkeit entscheiden. Besonders schwierig ist das für in Deutschland geborene Kinder von Migranten. Sie verfügen bis zu ihrem 18. Lebensjahr über zwei Staatsangehörigkeiten, die ihrer Eltern und eine deutsche. Die sogenannten "Optionskinder" müssen dann aber zwischen dem 18. und 23. Lebensjahr mitteilen, ob sie die deutsche Staatsbürgerschaft behalten wollen. Dazu muss die andere Staatsangehörigkeit zuerst offiziell aberkannt werden, per Antrag im zweiten Herkunftsland. Die Ausbürgerungsbestätigung kann allerdings Monate auf sich warten lassen.
"Wer bis zu seinem 23. Lebensjahr nicht aus der zweiten Staatsbürgerschaft entlassen ist, verliert automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft", warnt Susanne Worbs vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Eine Studie der Behörde bestätigt, dass die wenigsten betroffenen Jugendlichen über die bürokratischen Pflichten Bescheid wissen. "Wer die Fristen verpasst, muss notfalls eine erneute Aufenthaltsgenehmigung für Deutschland beantragen." Susanne Worbs weist darauf hin, dass man deshalb die Verfahrenszeiten nicht unterschätzen sollte.
Umstrittener Entscheidungszwang
Von dem Zwang, sich zwischen den zwei Staatsangehörigkeiten entscheiden zu müssen, ist vor allem die größte Migrantengruppe in Deutschland betroffen: Menschen mit türkischen Wurzeln. Ihr Land ist noch nicht Mitglied der EU. Viele in Deutschland geborene "Deutschtürken" ärgern sich, dem Land ihrer Eltern eine Absage erteilen zu müssen. Sie haben das Gefühl, damit ein Stück Kultur und Heimat aufzugeben. Sie empfinden es als ungerecht, dass bei vielen Einwanderern anderer Nationalitäten eine doppelte Staatsbürgerschaft erlaubt ist.
Zwar locken bei der Entscheidung für den deutschen Pass neue Möglichkeiten, wie das Recht wählen zu dürfen und so Politik mitgestalten zu können. Oder der diplomatische Schutz als Deutscher weltweit. Doch die Aufgabe der türkischen Staatsangehörigkeit kann auch Nachteile mit sich bringen. Bestimmte Berufe in der Türkei auszuüben, wird schwieriger oder gar ganz unmöglich. Das schränkt die berufliche Mobilität ein. Auch ein Erbe in der Türkei anzutreten, wird problematischer.
"Es sollte eigentlich nicht so sein, aber in der Praxis sind viele Ämter und Behörden der Kommunen teilweise überfordert", bestätigt Serkan Tören. Der Abgeordnete der FDP im Bundestag mit türkischer Herkunft hat selbst vor Jahren für sich persönlich entschieden, Deutscher zu werden. "Du bist plötzlich Teil der Gesellschaft, in der du lebst. Das war für mich sehr wichtig."
Serkan Tören wollte unbedingt in die Politik. Heute sagt er aber, dass er die Optionspflicht nicht gut findet. Er setzt sich dafür ein, dass alle Einwanderer und ihre Kinder zwei Staatsbürgerschaften behalten dürfen. "Viele andere Staaten in der Welt erlauben das auch. Wenn wir im Wettbewerb mit diesen Ländern Zuwanderer als Fachkräfte für Deutschland gewinnen wollen, müssen wir Zweistaatlichkeit möglich machen“, fordert er.
Veränderungen deuten sich an
Diese politische Haltung von Tören ist typisch für die Liberalen, die mehrheitlich die doppelte Staatsbürgerschaft unterstützen. Als Koalitionspartner von CDU und CSU in der Bundesregierung hatten sie schon in den Koalitionsvertrag aufnehmen lassen, die bisherigen Regelungen erneut auf den Prüfstand zu stellen. Die Bundestagswahl im Herbst wird zeigen, ob die FDP weiter politischen Einfluss nehmen kann.
SPD, Grüne und Linke wollen im Fall eines Wahlsieges die doppelte Staatsbürgerschaft zur Regel werden lassen. Eine Initiative des Bundesrates, inzwischen mit SPD-Mehrheit, hat sich aktuell gegen die Optionspflicht ausgesprochen und wartet auf die Entscheidung des neuen Bundestags im Herbst. Aktuelle Umfragen belegen indes: Immer mehr Deutsche sind dafür, dass Menschen bei der Einbürgerung ihre ausländische Staatsbürgerschaft behalten dürfen.
"Früher oder später werden die bisherigen Regelungen kippen - sie sind einfach nicht mehr zeitgemäß", lautet die Einschätzung von Jens Schneider, Migrationsforscher an der Universität Osnabrück. Er fürchtet, dass sich viele, die keine doppelte Staatsbürgerschaft erhalten können, wieder zurück in ihre Heimat orientieren. "Das aktuelle Staatsangehörigkeitsrecht hat große Sprengkraft", findet Schneider. Er beobachtet in den Schulen ein starkes "Entfremdungsproblem". Seine Studien belegen das.
In Nordrhein-Westfalen, dem größten Bundesland, sanken die Einbürgerungsanträge um rund 40 Prozent. Dieselbe Entwicklung offenbaren die Einbürgerungsstatistiken deutschlandweit. Das Landesintegrationsministerium sieht den Hauptgrund in dem fehlenden allgemein eingeführten Doppelpass. Und dem Zwang, die bisherige Staatsbürgerschaft aufzugeben. Denn die macht für die Betroffenen einen wichtigen Teil ihrer Identität aus.