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Politik

Doppelwahl in Bulgarien

Christopher Nehring
14. November 2021

Mitten in der schlimmsten Corona-Welle wählt Bulgarien Präsident und Parlament. Seit April gibt es keine Regierung - und die Aussichten für eine Kabinettsbildung sind schlecht. Die Hoffnungen ruhen auf zwei Newcomern.

Bulgarien - Wahl
Bild: Giannis Papanikos/AP/picture alliance

Bulgarien wählt an diesem 14. November nicht nur einen neuen Staatspräsidenten, sondern auch ein neues Parlament. Die dritte Abstimmung in diesem Jahr wurde nötig, weil nach den beiden Wahlen vom April und Juli keine Partei ein Kabinett bilden konnte. "Dieses Mal muss es eine Regierung geben", erläutert Vessela Tcherneva, Direktorin des European Council on Foreign Relations (ECFR) in Sofia, die Lage vor der Wahl. "Die Gesellschaft erwartet, dass die Parteien endlich ihre Aufgabe erfüllen."

Laut letzten Umfragen könnte sich die erst wenige Monate alte Reformpartei 'Wir führen den Wandel fort' mit den Parteien der Proteste des vergangenen Jahres, also 'Demokratisches Bulgarien', 'Steh auf Bulgarien! Wir kommen!' und 'Es gibt so ein Volk' sowie mit den Sozialisten zu einer Koalition zusammenschließen, so Tcherneva weiter. "Auf Dauer ist das eine schwierige Konstellation, aber für einen gewissen Zeitraum könnte es gehen. Es braucht endlich eine Regierung, die politische Verantwortung für große Entscheidungen übernimmt."

Wesela Tschernewa, Direktorin des European Council on Foreign Relations (ECFR) in SofiaBild: BGNES

Derweil sind die Parteien in der aktuellen bulgarischen Volksvertretung vor allem eines: zerstritten. Nahezu einhellig mahnen Experten und Kommentatoren in dem EU-Land die Parteien dazu, ihre Grabenkämpfe zu beenden. "Der Impetus, eine Regierung zu bilden, ist bei dieser Wahl noch stärker. Gleichzeitig erscheint es angesichts der Umfragewerte noch schwieriger als bei den vorherigen beiden Wahlen", sagt Parwan Simeonow, Direktor des Meinungsforschungsinstituts Gallup International Balkans, der DW.

Derweil wächst die Liste der dringend anstehenden politischen Entscheidungen: Gesundheitssystem, Impfkampagne und Krisenmanagement sind in der vierten Corona-Welle an ihre Grenzen gekommen. "Die Frage ist nicht so sehr, welche Auswirkungen Corona auf die Wahl hat, sondern welche Auswirkungen die Wahl auf das Corona-Management hat. Täglich sterben zwischen 100 und 300 Menschen, doch es passiert wenig. Die Politiker haben mehr Angst vor den Wählern als vor dem Tod und dem Virus", meint Vessela Tcherneva. "Bei allen wichtigen politischen Fragen - dem bulgarischen Plan für den EU-Wiederaufbaufonds, der Energiewende, dem Streit mit Nord-Mazedonien, der von Opposition und EU geforderten Justizreform und dem Kampf gegen die grassierende Korruption - kann und will die Übergangsregierung keine Verantwortung übernehmen."

Stillstand statt Wandel

Dem stimmt auch Martin Kothé, Leiter des Büros der Friedrich-Naumann-Stiftung in Sofia, zu: "Die Themen liegen auf der Hand, es geht um den Kampf gegen die korrupten Strukturen und eine wirksame Corona-Politik", sagt er der DW. "Die Leute wollen einen Wandel, aber sie bekommen Stillstand." Denn für echte Regierungsarbeit fehlt den seit April amtierenden Übergangsregierungen sowohl der Verfassungsauftrag als auch eine parlamentarische Mehrheit.

Kiril Petkow (l.) und Asen Wasilew (r.) von der Newcomer-Partei 'Wir führen den Wandel fort'Bild: BGNES

Der größte Unterschied zu den vorherigen Wahlen ist die neue Partei 'Wir führen den Wandel fort'. Asen Wasilew und Kiril Petkow, zwei Minister der Übergangsregierung vom April, stampften sie im Sommer diesen Jahres hastig aus dem Boden. Parwan Simeonow charakterisiert sie als "technokratische Wirtschaftsliberale westlicher Prägung, deren Parteitypus der Bewegung Emmanuel Macrons in Frankreich ähnelt." Die beiden Manager, die im bulgarischen Volksmund die "Jungs aus Harvard" genannt werden, wollen vor allem beim Thema Korruptionsbekämpfung punkten. "Sie sind politisch unbelastet und strahlen Energie, Tatkraft und politische Courage aus. Das braucht es vielleicht dringender als politische Erfahrung, an der es ihrer Partei mangelt. Sie haben das Potenzial, zweitstärkste Kraft zu werden", meint Vessela Tcherneva.

Der Präsident als Gewinner

Das Rennen um den zweiten Platz scheint bei dieser Wahl interessanter als der Wahlsieger. Alle Umfragen sehen den ehemaligen Ministerpräsidenten Bojko Borissow als stärkste Kraft. Doch seine GERB-Partei ist seit den Massenprotesten 2020 politisch isoliert. Eine Regierungsbildung traut ihr niemand zu. "Die wichtigste Frage wird sein: Werden die Sozialisten oder 'Wir setzen den Wandel fort' zweitstärkste Kraft? Werden die Sozialisten Zweite, erhalten sie als auch als Zweite das Mandat zur Regierungsbildung. Scheitern sie damit, ist es nahezu ausgeschlossen, dass es beim dritten Mandat zu einer Einigung unter den Parteien kommt", erklärt Parwan Simeonow.

Bulgariens Staatspräsident Rumen RadewBild: picture-alliance/J. Ratz

Auch der Sieger der Präsidentschaftswahl scheint so gut wie festzustehen: Amtsinhaber Rumen Radew liegt in allen Umfragen deutlich vor seinen Gegenkandidaten. "Doch Vorsicht: Erreicht er im ersten Wahlgang keine absolute Mehrheit, wird es beim zweiten schon schwieriger. Es ist die Verbindung aus Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, die die Wähler mobilisiert. Bei einem zweiten Wahlgang wird die Beteiligung sinken", so Parwan Simeonow. Radew - da sind sich Analysten einig - ist der Gewinner der Parteienkrise und des seit einem Jahr anhaltenden politischen Chaos in Bulgarien.

Einigen sich die Parteien nicht auf eine Regierung, müsste Radew erneut eine Übergangsregierung ernennen - die dritte in diesem Jahr. "Doch ich sehe ihn nicht in der Rolle des starken Mannes, er hat keinen Appetit auf Regierungsgeschäfte, sondern gefällt sich in der bequemeren Rolle als Präsident. Als ehemaliger Soldat bevorzugt er klare Regeln. Er macht keine Anstalten, die Regeln - sprich: die Verfassung - ändern zu wollen und eine präsidiale Republik anzustreben", sagt Simeonow weiter.

Die bulgarische Doppelwahl steht also ganz im Zeichen der Frage: Was, wenn es wieder nicht klappt mit der Regierungsbildung? "In diesem Fall ist die Gefahr sehr groß, dass der Parteienpluralismus diskreditiert wird und faschistoide Tendenzen aufkommen. Es herrscht bereits jetzt eine Mischung aus Ermüdung und Gleichgültigkeit", so Simeonow. Der international renommierte bulgarische Politologe Iwan Krastev geht sogar noch weiter: In einem Interview mit dem TV-Sender bTV sprach er von einem "kollektiven Selbstmord des politischen Systems", sollte eine Regierungsbildung erneut scheitern.