Bram Stokers Dracula
20. April 2012Seit Bram Stokers "Dracula" hat der Mythos des Vampirs einen Namen. Der Roman des Iren wurde in über 45 Sprachen übersetzt, kopiert, verfilmt und hat den blutsaugenden Grafen aus den Karpaten in der ganzen Welt bekannt gemacht. Bis heute hat der charmante Beißer nichts an seiner Beliebtheit eingebüßt. Erst vor kurzem wurde er wiederbelebt - allerdings in einer eher zahmen Teenie-Variante. Anlässlich des 100. Todestages von Bram Stoker am 20. April legt der Steidl Verlag eine neue deutsche Übersetzung des Klassikers vor. Ein Gespräch mit dem Übersetzer und Herausgeber Andreas Nohl.
Deutsche Welle: "Dracula", ein Klassiker der Weltliteratur, liegt in verschiedenen Ausgaben vor. Warum war eine Neuübersetzung nötig?
Andreas Nohl: Die vorhandenen Übersetzungen sind unvollständig bis unzuverlässig. Das hat teilweise bereits mit den englischen Vorlagen zu tun, die voneinander und teilweise auch von der Originalausgabe aus dem Jahre 1897 abweichen. Und selbst die Originalausgabe wirft Fragen auf, weil sie Fehler enthält: von falschen Datierungen (bei den Tagebucheintragungen) bis hin zu handlungslogischen Fehlern.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Natürlich will ich damit nicht die Arbeit der bisherigen Übersetzer in Misskredit bringen: die haben schon alle eine anerkennenswerte Leistung vollbracht. Aber zu den Beispielen: manche sprechen von Schloss Dracula, was schlicht und einfach falsch ist – "castle" heißt nun einmal Burg, und es handelt sich ja um ein mittelalterliches, gotisches Gemäuer auf einer Felsspitze, das zum Teil bereits eine Ruine ist. Schlösser waren Wohnanlagen Adeliger, sie heißen im englischen "palace". Die Cigány, die Zigeuner, sprechen in den anderen Übersetzungen meist "Rumänisch", in Wahrheit sprechen sie aber Romani, die Sprache der Roma. Oft sind auch Shakespeare- und andere Zitate falsch widergegeben et cetera.
Als Dracula 1897 das erste Mal erschien – wie haben die Leute da reagiert?
Dracula war in der englischen Literatur ja nicht der erste Roman aus dem Genre der Schauerromantik. Die "gothic novel" erfreute sich dort seit Horace Walpoles Burg von Otranto großer Beliebtheit. Insofern war das Buch nicht aufgrund seines Horrorgehalts von Interesse, sondern wegen der besonderen Konstellation, die es beschreibt: die englische Funktionselite – Rechtsanwalt, Psychiater, Adeliger, Pädagogin – kämpfen gegen das Mythisch-Böse in Gestalt des Vampirs Graf Dracula. Und diese Konstellation erregte in der Tat auch schon bei Ersterscheinen ein gewisses öffentliches Interesse. Zum Beispiel war der junge Winston Churchill ein begeisterter Leser des Buchs.
Auf welche Traditionen konnte Bram Stoker zurückgreifen?
Nun, es gab ja in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts mehrere Vampirgeschichten und -Romane. Ich nenne hier nur John Polidoris "The Vampyre", James Malcolm Rymers "Varney the Vampyre; or the Feast of Blood" und Sheridan Le Fanus berühmte Novelle "Carmilla", in der es allerdings um einen weiblichen Vampir geht. Auf diese Vorläufer greift Stoker meines Erachtens nicht zurück, ich glaube, er war angeregt von Guy de Maupassants Novelle "Le Horla", die zu seiner Zeit schon ins Englische übersetzt war und auffällige Ähnlichkeiten mit den Anfangskapiteln von Dracula aufweist.
Gab es auch in der deutschen Literatur Vampire?
Mir ist eigentlich nur Goethes Ballade "Die Braut von Korinth" bekannt. Erst später, mit Wedekinds "Lulu", tritt dann der weibliche Vamp richtig in Erscheinung. Übrigens schrieb Wedekind seine Lulu-Dramen zur gleichen Zeit wie Stoker seinen Dracula.
Was ist das besondere an Stokers Interpretation? Warum wurde sein Dracula zum Prototyp aller Vampire?
Zunächst einmal ist da der suggestive Name, der unmittelbar das Schreckliche und zugleich etwas Weibliches insinuiert – ursprünglich sollte das Buch ja "The Undead", der Untote, heißen. Die geniale Idee von Stoker war es zweifellos, den etwas unfassbaren Vampirmythos mit einer geschichtlichen Figur aufzuladen, die es wirklich gegeben hatte. Damit bekam das Chimärische des Vampirs eine Zeit und einen Ort, ja ein überzeugendes Leben zugewiesen. Zudem hat Stokers Figur etwas Schillerndes, er verführt Frauen, er ist nicht nur böse, sondern in gewisser Weise auch tragisch. Das ist natürlich viel Stoff.
Warum fasziniert der Vampirstoff immer wieder – und das überall auf der Welt?
Ich glaube, das hat damit zu tun, dass dieser Stoff es erlaubt, der total durchrationalisierten Welt ein Schnippchen zu schlagen. Bei Stoker ist es ja noch das Böse als Mythos, das von der bloß aufgeklärten Gesellschaft nicht recht gefasst werden kann. Heute scheint mir – etwa bei Stephenie Meyer [Autorin der Twilight-Serie, Anm. d. Red.] – die Sehnsucht nach etwas zu bestehen, das ein Stück Märchenwelt in das vernunftkontrollierte Leben zurückbringt. Eine Art modernes Märchen ist ja auch Stokers Dracula.
Bram Stoker: Dracula. Herausgegeben, neuübersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Andreas Nohl. Steidl Verlag 2012. 540 Seiten. 28 Euro. ISBN 978-3-86930-462-5