Draghi tritt zurück - Italien wählt neu
21. Juli 2022Italiens Staatspräsident Sergio Mattarella hat den Rücktritt von Regierungschef Mario Draghi angenommen und das Parlament aufgelöst. Dadurch werden innerhalb von 70 Tagen Neuwahlen nötig - der Termin wurde auf den 25. September festgelegt. "Die politische Situation hat zu dieser Entscheidung geführt", sagte Mattarella in einer Fernsehansprache. Die Regierung bleibt für die laufenden Geschäfte weiter im Amt.
In der Abgeordnetenkammer hatte Draghi seine Rücktrittsabsicht bekannt gemacht. Vor der Erklärung gab es langen Applaus für Draghi. Viele Abgeordnete standen auf, der Regierungschef bedankte sich bei den Parlamentariern mit einem "Grazie".
Müllverbrennungsanlage als ein Stein des Anstoßes
Auslöser der Regierungskrise war das ausgebliebene Vertrauen der Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) für das Kabinett des parteilosen Ex-Chefs der Europäischen Zentralbank (EZB). Bei einer Abstimmung vor einer Woche hatte die mitregierende Mitte-Links-Partei Draghi wegen Uneinigkeiten über ein Hilfspaket und den darin enthaltenen Bau einer Müllverbrennungsanlage in Rom das Vertrauen verweigert und damit die Regierungskrise eskalieren lassen. Draghi reichte daraufhin bei Staatschef Mattarella seinen Rücktritt ein. Dieser lehnte Draghis Gesuch aber ab und bestellte ihn stattdessen zu einer Aussprache in den Senat.
Am Mittwoch gewann Draghi zwar im Senat das erwartete Vertrauensvotum mit 95-Ja zu 38-Nein-Stimmen. Da sich aber die Regierungsparteien M5S, die konservative Forza Italia und die rechte Lega enthielten, war der Wunsch des 74-Jährigen nach Unterstützung durch eine breite Parlamentsmehrheit dahin.
Reaktionen von schockiert bis erfreut
Italiens Politik zeigte sich schockiert, entrüstet, aber mitunter auch erfreut. "Es gab keine Bedingungen mehr, unter denen wir in einer loyalen Zusammenarbeit weitermachen hätten können", sagte der Chef der Fünf-Sterne-Bewegung, Giuseppe Conte.
"Die Regierung Draghis zu Fall zu bringen bedeutet, gegen Italien und die Interessen der Italiener zu sein", erklärte dagegen der Chef der mitregierenden Sozialdemokraten (PD), Enrico Letta. Außenminister Luigi Di Maio von der Partei Insieme per il futuro (Gemeinsam für die Zukunft) befand, man habe die Zukunft der Italiener verzockt.
Kommt Mitte-Rechts-Block an die Regierung?
Lega-Chef Matteo Salvini machte die Mitte-Links-Parteien der Regierung für Draghis Fall verantwortlich: "Draghi und Italien sind zu Opfern des seit Tagen andauernden Wahnsinns der Fünf Sterne und den Machtspielchen der PD geworden." Erfreut zeigte sich die Chefin der rechtsextremen Fratelli d'Italia (Brüder Italiens), Giorgia Meloni. "Wenn alles gut geht, dann wird binnen zwei Monaten gewählt werden können, wir sind bereit", sagte die Politikerin in Rom.
Tatsächlich könnte die nächste Parlamentswahl Umfragen zufolge die politische Landschaft im Stiefelstaat maßgeblich verändern. Derzeit liegt die Partei Fratelli d'Italia in der Wählergunst vorne. Gemeinsam mit der Lega und der Forza Italia könnte der Mitte-Rechts-Block damit sehr viele Menschen und am Ende vielleicht sogar eine Parlamentsmehrheit hinter sich vereinen.
Minister kehrt Forza Italia den Rücken
Als Konsequenz aus Draghis Rücktritt verließ der bisherige Minister für die öffentliche Verwaltung, Renato Brunetta, seine Partei Forza Italia. "Nicht ich bin es, der geht, sondern es ist die Forza Italia, oder besser gesagt, das was davon übrig ist, die sich selbst verlassen hat", schrieb Brunetta auf Facebook. Indem Draghi nicht das Vertrauen ausgesprochen wurde, "ist meine Partei von den Grundwerten ihrer Kultur abgewichen". Unverantwortliche Mitglieder hätten Partei-Interessen über die des Landes gestellt, und die Parteispitzen hätten sich vom schlimmsten Populismus platt drücken lassen und damit einen Meister wie Draghi geopfert, so Brunetta weiter.
Nervöse Reaktionen an Mailänder Börse
Am Vormittag reagierten die Märkte auf die drohende politische Instabilität in der drittgrößten Volkswirtschaft der EU mit einer Abwärtsbewegung. Die Börse in Mailand stand zwischenzeitlich mit zwei Prozent im Minus. Der Risikoaufschlag für zehnjährige italienische Staatsanleihen im Verhältnis zu deutschen Staatsanleihen stieg deutlich an. Das hoch verschuldete Italien könnte damit zu einer Gefahr für die EU und den Euro werden, der unter Druck geraten könnte.
rb/sti/fab (afp, dpa, rtr)